Wie ich in der letzten Ausgabe ausführte, bin ich ein überzeugter Anhänger des Coaching. Wie es mir als altem Coaching-Hasen, der mit allen Wassern gewaschen ist, passieren konnte, aus einem Training zu fliegen, will ich heute berichten.

Ich überspringe die ersten Verdachtsmomente und führe Sie direkt in den Trainingsraum. Hier wurden wir mit Kaufhausmusik eingelullt, durch Abgabezwang sämtlicher Utensilien entwaffnet, durch Massenmeditation mental geschwächt und von Lily und John, die ohne Punkt und Komma in ihre Headsets säuselten, um den Verstand geschwatzt, so dass uns kein Atem blieb, um einen kritischen Gedanken aufkommen zu lassen. Uns wurde eingetrichtert, dass wir in nur drei Tagen unser ganzes Leben ändern könnten – WENN WIR UNS NUR ganz und gar auf das Training einließen. Wer das nicht täte, tja, selber schuld! Wolle anscheinend nicht sein Leben ändern. Und wer Widerstand spüre, müsse diesen fallen lassen, wenn er – na, was? Genau! sein Leben ändern wolle. Alarm! Mein Bauchgefühl meldete höchste Wachsamkeit und Einsatzbereitschaft.

Argwöhnisch beobachtete ich, wie verirrte und verwirrte Lämmchen inmitten von 150 Leuten ins Mikrofon weinten. Zur Belohnung bekamen sie von Lily und John ruck, zuck zusätzliche Probleme aufgedrängt, die sie vorher nicht hatten, aber schließlich standen ja drei Tage zur Verfügung, um sie wieder loszuwerden. Als sich allmählich eine Hammelherde bildete, meldete mein Bauch: akuter Handlungsbedarf, Ziel anvisieren, Waffen entsichern! Als Lily und John das Publikum reif für den letzten Schritt wähnten, um aus den Lämmchen Lemminge zu machen, verlasen sie die Regeln. Man dürfe kein Bonbon lutschen, weil, wenn man sich bei einem körperlichen Einsatz verschlucke, ein lebensrettender Notarzteinsatz das ganze Training für alle anderen Teilnehmer kaputt machen würde. Auch solle man das ganze Wochenende nicht mit daheim telefonieren, nicht mit den anderen Teilnehmern über das Training sprechen und weiterer solcher Unfug. UND: das ganze Wochenende keinen Alkohol trinken. Das war mein Stichwort, Feuer frei!

Ich vermeldete, dass ich die Regeln nicht einzuhalten gedenke. Auf die Stille folgte eine unschöne Diskussion, in der Lily versuchte, mir ein Suchtproblem anzudrehen, aber mit dem schönen Nebeneffekt, dass ich das Protesteis brechen und ein paar der Lämmer abwerben konnte. Wer ein Problem mit den Regeln hätte, der solle aufstehen. Da stand ich allein auf weiter Flur, doch dann erhoben sich immer mehr Teilnehmer. Wie in einem Hollywood-Streifen. Ey cool, dachte ich, ich habe eine Widerstandsbewegung ins Leben gerufen! Vielleicht wird ja mal eine Straße nach mir benannt: die Julia-Siebert-Allee. Allein, Lily und John gönnten mir meine Allee nicht, nahmen uns ins Kreuzverhör, verhaspelten sich aber in ihren eigenen Argumenten und versuchten es schließlich mit Einschüchterung. Dies jedoch weckte weitere schlafende Hunde, die nun in unser Gebell einstimmten.

Über Nacht sammelte ich meine Gedanken und Mut, um das Geschehen weiterhin zu unterwandern. Ich wurde jedoch abgefangen, in einen Nebenraum gebeten (in einen Verhörraum abgeführt). Man empfahl mir, dem Training fernzubleiben (ich wurde rausgeschmissen). Dafür bekäme ich aber mein Geld zurück (ich erhielt Schweigegeld). In Anbetracht so großer Hürden verzichtete ich auf die Allee, willigte ein und radelte von dannen (ich ritt als schöne Querulantin im Jagdgalopp in den Sonnenuntergang).

Julia Siebert

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