Welche Sprachen sollen zukünftig das öffentliche Leben in Kasachstan bestimmen? Wie wichtig ist die Unterscheidung nach Ethnie überhaupt noch, sind doch alle Bürger Kasachstans, und was verbindet die Bürger mit dem Land? In Almaty, dem „Schmelztiegel“ der Nationalitäten in Kasachstan, haben wir uns umgehört, wie die 20- bis 30-Jährigen das interethnische Zusammenleben erfahren.

Im Ausweis wird in Kasachstan die ethnische Nationalität angegeben. Macht es einen Unterschied, zu welcher Ethnie man gehört?

Timur: Für manche Menschen ist die Unterscheidung nach wie vor wichtig. Kürzlich wurde ich bei einem Bewerbungsgespräch direkt am Anfang nach meiner ethnischen Zugehörigkeit gefragt. Ich war ziemlich überrascht und fand das sehr seltsam. Das steht doch im Gegensatz zur Politik der Regierung, die ja versucht, die Bürger Kasachstans zu vereinen. Das ist vermutlich nicht in jedem Unternehmen so, aber es kann vorkommen. Generell hängt es von der jeweiligen Person und Situation ab, ob die Zugehörigkeit zu einer Ethnie relevant ist.

Nargisa: Für mich hat die Unterscheidung nach Ethnien keine große Bedeutung. Ich fühle mich hier wohl und wurde noch nie aufgrund meiner ethno-nationalen Identität diskriminiert. Historisch hat es sich eben entwickelt, dass hier viele unterschiedliche Nationalitäten miteinander zusammenleben. Die jeweiligen ethnischen Gruppen respektieren die Traditionen, Sprachen und Lebensweisen der anderen.

Stanislaw Jewstifejew
Stanislaw Jewstifejew (25) ist in Almaty geboren und aufgewachsen. Seinem kasachstanischen Ausweis nach ist er ethnischer Russe. Momentan macht er einen Master in EU-Russland Studien an der Universität Tartu.

Stanislaw: Ich versuche nicht, in ethnischen Kategorien zu denken. Ich halte es für wichtiger, sich über die Staatsbürgerschaft zu definieren, da dies eine inklusive Identität ist. Wenn sich die ethno-nationale und staatsbürgerliche Identität nicht vertragen, kann es schnell sehr politisch werden. Identifiziert man sich beispielsweise als Russe, kann man viel anfälliger für die Versuche Russlands sein, Einfluss auf unser Land zu nehmen.

Aidana: Ich denke nicht, dass es einen Unterschied macht.

Wie stehst du zu dem Begriff „Kasachstaner“, um die Bevölkerung Kasachstans zu bezeichnen?

Stanislaw: Ich denke, dass der Begriff überhöht wird. Der Ausdruck „Kasache“ kann genauso gut die gesamte Bevölkerung Kasachstans beschreiben. Durch die Neudefinierung des Begriffs „Kasache“ könnte dieser eine inklusive Bedeutung bekommen. Ich persönlich trenne auch nicht mehr zwischen ethnischen Kasachen und anderen Ethnien, da sie ja alle die gleiche Staatsbürgerschaft haben.

Timur: Da „Kasache” eine ethnische Bezeichnung ist, denke ich, dass es besser ist, uns „Kasachstaner“ zu nennen. Ich finde es unnötig, dass im Ausweis die Ethnie angegeben wird, im Reisepass steht sie ja auch nicht.

Aidana Schan
Aidana Schan (27) stammt aus Taldykorgan, 250 Kilometer nördlich von Almaty. Die ethnische Kasachin arbeitet in der Logistik und Verwaltung einer georgischen Firma in Almaty. Seit sieben Jahren wohnt sie in der Stadt.

Aidana: Der Begriff macht auf jeden Fall Sinn. Er bezeichnet eine Person, die aus dem Land Kasachstan kommt und eine bestimmte Mentalität und bestimmte Traditionen hat. Menschen aus Kasachstan sind sehr gastfreundlich und höflich und haben großen Respekt vor älteren Menschen. Auch Pferdefleisch wird traditionell gegessen. Egal ob Russe, Deutscher oder Kasache.

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Was bedeutet es für dich, Bürger Kasachstans zu sein?

Stanislaw: Für mich bedeutet es, die Politik in Kasachstan zu verfolgen, mir über seine Souveränität und die Beziehungen zu anderen Ländern Gedanken zu machen und die politischen Interessen als meine Interessen zu sehen. Natürlich ist das manchmal auch eine Herausforderung, da man sich ja nicht immer zu hundert Prozent mit der politischen Agenda seines Landes identifiziert.

Nargisa: Ich fühle mich mit dem Staat nicht nur verbunden, weil ich hier geboren und aufgewachsen bin, sondern auch weil ich mich auch für Veränderungen und Entwicklungen im Land interessiere. Jeder Kasachstaner sollte zur Entwicklung des Landes beitragen.

Timur: Ein Bürger Kasachstans zu sein, bedeutet, dass du einen Beitrag zur Entwicklung des Landes leistest, indem man zum Beispiel seine Steuern zahlt, da diese die Haupteinnahmequelle des Staates sind. Obwohl ich aufgrund der Wirtschaftskrise momentan weniger optimistisch in die Zukunft Kasachstans blicke, habe ich beschlossen, hier zu bleiben. Ich möchte das Land vorwärtsbringen.

Aidana: Es bedeutet, mein Land und die Menschen dort zu lieben und Sorge für die Natur, unser Mutterland, zu tragen.

Wie ist das Zusammengehörigkeitsgefühl unter Kasachstanern?

Stanislaw: Für mich ist Solidarität ganz besonders wichtig. Ich mache mir vor allem Gedanken über diejenigen, die keinen so guten Zugang zu Kultur- und Bildungseinrichtungen haben wie die Menschen in Astana oder Almaty. Die Folgen dieser sozialen Ungleichheit, der hohen Arbeitslosigkeit in den Großstädten und der schlechten Integration von Binnenmigranten beunruhigen mich.

Nargisa: Ich glaube, es gibt sowohl ein Zusammengehörigkeitsgefühl als auch ein Gefühl der Andersartigkeit unter uns. Wir sind Kasachstaner, wir leben miteinander, aber wir alle sind unterschiedlich. Das Wichtigste ist, die Rechte von anderen Menschen zu respektieren.

Timur Sekerow
Timur Sekerow (31) ist ethnischer Kasache. Aufgewachsen in Usbekistan, kam er mit seinen Eltern im Alter von 18 Jahren nach Almaty. Er ist studierter Ökonom.

Timur: Meine Freunde in Kasachstan gehören alle zu unterschiedlichen Ethnien und fühlen sich hier sehr wohl. Kultur und Mentalität der Menschen, die in Kasachstan geboren sind, sind durch Kasachstan geprägt. Die Menschen hier sind mehr kasachstanisch als deutsch, russisch oder ukrainisch. Verwandte von mir sind nach Russland ausgewandert, da sie ethnische Russen sind. Sie wurden dort aber nicht als Russen angesehen. Ein Teil von ihnen ist nach Kasachstan zurückgekommen.

Aidana: Solidarität ist wichtig. Wir sollten füreinander sorgen und uns respektieren, da wir in einem Land leben und alle Bürger Kasachstans sind. Größtenteils funktioniert das auch sehr gut, Streit aufgrund der Nationalität gibt es nur äußerst selten.

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Bis 2025 soll das kasachische Alphabet latinisiert werden. Außerdem war im Gespräch, Parlamentsdebatten zukünftig nur noch auf Kasachisch abzuhalten. Letzteres ist wieder vom Tisch. Dennoch, was lösen diese Entwicklungen bei dir aus?

Nargisa Tochtasynowa
Nargisa Tochtasynowa (24) ist gebürtig aus Almaty. Die ethnische Usbekin lebt dort bis heute und arbeitet als Englischlehrerin.

Nargisa: Durch die Latinisierung des Alphabets kann sich Kasachstan besser in die globalisierte Welt einbringen. Allerdings sind damit auch bestimmte Herausforderungen wie die Änderung von Schulbüchern und offiziellen Dokumenten verbunden. Die Umstellung sollte wohldurchdacht sein.

Timur: Ich halte die Latinisierung für eine gute Idee. Englisch ist Weltsprache und im Englischen benutzt man nun einmal lateinische Lettern. Auch einige andere Turkstaaten nutzen bereits das lateinische Alphabet.

Generell fände ich es wichtig, dass in Kasachstan alle Kasachisch können beziehungsweise Kasachisch und Russisch. So kann jeder jeden verstehen. Die offizielle Kommunikation auf Kasachisch zu vereinheitlichen, fände ich nicht schlecht, da Missverständnisse aufgrund von Übersetzungsfehlern vermieden würden. Wichtig wäre, dass die Regierung eine Atmosphäre schafft, in der die Menschen gerne Kasachisch lernen.

Aidana: Wir leben in Kasachstan und haben natürlich unsere eigene Sprache. Ich selbst spreche ein bisschen Kasachisch, aber mein Russisch ist besser. Dennoch finde ich es normal, wenn in der Zukunft Kasachisch wichtiger wird. Das bedeutet nicht, dass wir ausschließlich Kasachisch beherrschen sollten – auch Russisch und Englisch sind sehr wichtig.

Stanislaw: Das löst bei mir gemischte Gefühle aus. Historisch betrachtet hat das kyrillische Alphabet schon seine Berechtigung – allerdings ist nicht jedes historische Erbe erstrebenswert. Politisch betrachtet kann es ein interessantes Experiment sein. Die Änderung des Alphabets wird zwar nicht die innenpolitischen Herausforderungen lösen, kann aber eine Botschaft an Russland sein, dass Kasachstan ein eigenständiges Land ist.

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Die Fragen stellte Sabine Hoscislawski

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