„Der Nationalpark „Charyn-Canyon“ ist ein Traum. Der Canyon selbst versetzt einen in pures Staunen“, so beschrieb uns ein Tourist vorab den Ausflug zum Canyon. In aller Frühe startet die gut dreieinhalbstündige Fahrt vom Zentrum Almatys aus. Oxana, die Reiseführerin, betreut die Fahrt und gibt, während sich der Bus über Kasachstans Straßen quält, allerlei Informationen über Land und Leute. Unter anderem erfahren wir, warum Almaty auch „Apfelstadt“ genannt wird. Die Busfahrt ermöglicht es uns, aus der Almaty-Blase herauszukommen und einen kleinen Einblick in das Leben der Menschen außerhalb Kasachstans Millionenmetropole zu erhaschen. In zwei kurzen Pausen können wir an kleinen Ständen selbstgemachte kasachische Nationalgerichte, wie beispielsweise Kurt, kaufen und mit der einheimischen Bevölkerung ins Gespräch kommen.

Am Canyon angekommen, überrascht uns ein starker Wind, der Hüte durch die Luft fliegen lässt. Verzweifelt laufen Babuschkas ihrer Kopfbedeckung hinterher und versuchen sie wieder einzufangen. Vom Ausgangspunkt aus geht es auf eine drei Kilometer lange Wanderung. Uns bietet sich eine traumhafte Kulisse, die zum Fotografieren und Genießen einlädt. Die Sonne scheint warm auf die orange leuchtende Landschaft, während der Wind uns kühl durch die Haare weht. Von oben kann man die steilen Felswände erkennen, durch die sich der blau schimmernde Fluss einen Weg gesucht hat. Kleine Bäume, deren Rinde wie gemalt wirkt, schmücken das Ufer und bieten Besuchern einen schattigen Platz zum Verweilen an. Unten angekommen, trifft man auf eine kleine Ansammlung von Hütten und Bungalows, die man zum Übernachten mieten kann. Entlang des Flusses lädt ein Restaurant zum Essen und Entspannen ein. Ein Mitwanderer nutzt die Traumkulisse für einen Heiratsantrag – zugegeben, der Ort bietet sich durch seine Schönheit regelrecht dazu an.

Da wir noch Zeit haben, bevor der Bus pünktlich um 16 Uhr wieder abfährt, entscheiden wir uns, einem Pfad den Canyon hinauf zu folgen, um einen besseren Ausblick zu erhalten – dies hatte man uns vorab im Bus empfohlen. „Sie können sich in den Canyons frei bewegen“, lautete die Aussage der Reiseführerin, die ihrer Tätigkeit seit 2006 nachgeht. Der Aufstieg ist anstrengend und mühselig, aber machbar. Wir entscheiden uns dafür, es nicht bei der einen schönen Aussicht zu belassen und folgen vermeintlichen Trampelpfaden. Wir nehmen an, dass wir genauso problemlos später wieder herunterkommen, wie wir am Anfang hochgekommen sind. Zu diesem Zeitpunkt ahnen wir noch nicht, dass sich diese Annahme als fatal falsch erweisen wird. Der Wanderweg wird mit jedem Schritt und jedem kleineren Auf- und Abstieg mühseliger. Wir irren durch den Canyon – von der Sonnenposition ausgehend, wissen wir, dass immerhin die Richtung zu den Bussen richtig ist.

Nach geraumer Zeit können wir von oben nicht mehr den offiziellen Wanderweg sehen – Menschen sehen oder hören wir nicht mehr. Auch bemerken wir, dass wir keinen Handyempfang mehr haben. Uns ist es zu diesem Zeitpunkt nicht möglich, eine andere Person anzurufen, um Hilfe zu holen. Die Hänge sind steil, der Weg nach unten unpassierbar, und die Zeit wird knapp. Wir beginnen zu begreifen, dass es schwer wird, den Bus rechtzeitig zu erreichen. Wegen aufkeimender Angst springen wir eine meterhohe Steilwand hinab und suchen vergeblich nach einem Ausweg. Obwohl der Wanderweg zugegeben traumhaft schön ist, machen wir keine Fotos mehr. Auch reden wir nicht mehr miteinander. Der Fokus liegt darauf, seine Panik gegenüber der anderen Person nicht zu zeigen. Wir marschieren im Schnellschritt. Zwischendurch machen wir kurze Trinkpausen, Wasser haben wir zu unserem Glück ausreichend dabei.

Plötzlich, aus dem nichts, reflektiert die Sonne ein auf dem Boden liegendes Objekt. Es ist eine Plastikflasche, es ist Müll. Wir sehen den Müll und freuen uns, denn wir realisieren: Müll ist ein Zeichen für Menschheit. Es ist ein Zeichen dafür, dass hier zuvor Menschen lang gewandert sind. Wir schöpfen Hoffnung. Obwohl wir wieder anfangen, Stimmen von anderen Canyon-Besuchern zu hören und die Busse auf der gegenüberliegenden Seite mittlerweile sogar sehen können, finden wir keinen Weg nach unten. Nach drei Stunden Herumirren erreichen wir endlich einen Berg, der es uns ermöglicht, herunterzusteigen und unserer Suche ein Ende zu setzen. Wir können es kaum glauben, und fallen uns in die Arme. Wir erreichen den Ausgangspunkt und steigen gerade noch rechtzeitig in den Bus zurück nach Almaty. Die anderen Reisenden, die bereits im Bus sitzen, ahnen nichts von unserem Abenteuer, das sich beinahe als ernsthafte Tragödie herausgestellt hätte. Diese Reise wird uns noch lange als ein Erlebnis in Erinnerung bleiben. Auf der Busfahrt zurück planen wir bereits unseren nächsten Ausflug. Almaty ist groß, und die Landschaft drum herum hat Vieles zu bieten.

Tourtipp: Das Reiseunternehmen „Asia Discovery“ bietet einen Tagesausflug zum Canyon für 6.500 Tenge in englischer und russischer Sprache an.

Sabine Koch, Katharina Jendny

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