Demonstranten verhinderten am 8. Mai eine Demonstration der NPD im Zentrum Berlins

Fahnen wehen am Palast der Re-publik. Einige davon sind rot, tragen die Aufschrift „Jusos“. Daneben flattern Regenbogenflaggen. „Pace – Frieden“ steht darauf. Daneben ragen einzelne Schilder in die Höhe: „Stoppt die NPD!“ Es sind vor allem junge Menschen, die diese Fahnen und Schilder im Zentrum Berlins in die Höhe halten. Einige von ihnen haben es sich auf der Wiese vor dem Dom gemütlich gemacht. Andere stehen auf der Balustrade des ehemaligen Palasts der Republik. Der Großteil aber steht direkt auf der Karl-Liebknecht-Brücke, direkt vor den grünen Einsatzwagen der Polizei. Vereinzelt sind Rufe zu hören: „Wir sind die Mehrheit!“ Dazu immer wieder der Klang von Trommeln. Meist aber liegt eine seltsame Anspannung und Ruhe über die Menge. Die meisten schauen aufs andere Ufer, versuchen einen Blick zu erhaschen auf das oder vielmehr die anderen, die sich auf dem Alexanderplatz versammelt haben.

Die anderen, das sind jene, die an diesem 8. Mai, an dem sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 60. Mal jährt, dem Aufruf der NPD gefolgt sind, in Berlin zu demonstrieren. Fast 3.000 Anhänger und Sympathisanten der Neonazis haben sich bereits am frühen Morgen am Alexanderplatz versammelt. Unter dem Motto „60 Jahre Befreiungslüge – Schluss mit dem Schuldkult“ wollen sie die Straße „Unter den Linden“ entlang ziehen, vorbei an Universität und Staatsoper bis zum S-Bahnhof Friedrichstraße. Einen Stopp am Brandenburger Tor hatten die Gerichte zuvor untersagt.

Doch aus dem Protestzug durch die Berliner Innenstadt wird erstmal nichts. Nachdem verschiedene linke Gruppierungen – und auch die eine oder andere Ministerin – zur Gegendemonstration aufgerufen haben, strömen tausende Gegendemonstranten Richtung Alexanderplatz. Ihr Ziel: den Aufmarsch der Nazis zu unterbinden. Doch bevor beide Gruppen aufeinander treffen können, geht die Polizei dazwischen, sperrt die Brücken über die Spree und kesselt die Nazis am Alexanderplatz ein. Zu ihrem eigenen Schutz, wie es später heißen wird.

Hier, auf dem anderen Spreeufer kann man den Kopf noch so weit recken, eine von den „Glatzen“ wird man nicht entdecken. Das Niemandsland, das die Polizei durchgesetzt hat, es ist sinnbildlich für die Welten, die die Gegendemonstranten und ihre Gegner trennen. Die Nazis bleiben fremd, wie ein Spuk, der auch 60 Jahre danach die Deutschen aufschreckt.

Darf der Staat, darf die Gesellschaft diesen „verbohrten Ideologen“ erlauben, offen für ihre menschenverachtenden Ansichten zu werben? Hat auch der Gegner der Meinungsfreiheit das Recht, diese Freiheit für sich in Anspruch zu nehmen? Der Staat hat diese Frage für sich damit beantwortet, dass er auch den Nazis das Recht einräumte, für ihre Ideen zu protestieren. Der öffentliche Raum, das haben die Gerichte klar gemacht, gehört keiner Gesinnung, auch nicht der guten, der richtigen.

Die Gesellschaft reagiert mit einer – inzwischen etwas routinierten – Empörung. Eingeübt während der Studentenrevolten der 60er und 70er Jahre, verfestigt während der Nazi-Renaissance nach der deutschen Wiedervereinigung funktioniert diese Abwehrhaltung inzwischen wie ein Reflex. Mit Lichterketten, Plakaten und Friedensliedern.

Oder mit Sitzblockaden, wenn es sein muss. „Hier spricht die Polizei. Wir fordern Sie auf, das Gelände zu räumen.“ Sowohl die Demonstranten als auch die Polizisten strömen Richtung Brücke. Der Himmel verdunkelt sich. Selbst das Wetter scheint sich der Dramatik des Augenblicks bewusst zu sein. Schlagartig schwillt die Menschentraube zwischen Dom und Palast der Republik an. Die Demonstranten, soviel ist klar, werden auch der Polizei die Stirn bieten.

Eigentlich müsste eine solchermaßen geimpfte Gesellschaft viel über die Ursachen des wiedererstarkenden Faschismus wissen – sollte man meinen. Doch die Zahl der rechtsextremistischen Straftaten nimmt zu, zuletzt um mehr als acht Prozent, ganze Gegenden in Ostdeutschland werden zu „völkisch befreiten Zonen“, ohne dass die Mehrheitsgesellschaft mehr zustande brächte als ein fast naives „Stoppt die NPD“.

60 Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur zeigen sich vor allem auch die Versäumnisse, die wie eine Hypothek immer noch auf Deutschland lasten. Versäumnisse im Westen wie im Osten. Im Westen, wo Nazi-Granden problemlos ihre Karriere wiederaufnehmen konnten, wo Widerständler lange auf ihre Rehabilitation warten mussten, und wo Konzerne sich Jahrzehnte um eine Aufarbeitung ihres Anteils am NS-Unrecht drücken konnten. Im Osten, wo die Entnazifizierung staatlich verordnet wurde, wo die eine Diktatur nahtlos in die andere mündete, und wo die wachsende Perspektivlosigkeit immer mehr junge Menschen in die Arme von Demagogen treibt. Gerade in den ländlichen Regionen Sachsens zeigt sich auch das Versagen der gesamtdeutschen Gesellschaft, hat sie doch zugelassen, dass sich hier eine Gegenkultur entwickelt, in der faschistisches Ideengut wieder gesellschaftsfähig geworden ist.

Plötzlich kommt eine Durchsage aus den Megaphonen der Polizei. „Aufgrund einer polizeilichen Anordnung findet keine Demonstration der NPD statt.“ Jubel bricht zwischen Dom und Palast der Republik aus. Die Wolkendecke reißt auf. Sonnenstrahlen fallen auf die Stadt. Fast scheint es, als würde sich der Tag in Wohlgefallen auflösen. Am Alexanderplatz ziehen die Nazis unverrichteter Dinge ab. Langsam macht sich Erleichterung breit. Die Schlacht um die Symbole ist gewonnen, und die Deutschen haben demonstriert, dass sie in der Mehrheit treue Demokraten sind. Doch auch das ist an diesem Tag klar: Straßenblockaden können Nazi-Aufmärsche zwar blockieren; ob solche Signale allerdings auch etwas in den Köpfen bewirken, ist fraglich. 2006, droht die NPD, werde sie in den Bundestag ziehen. Es wird mehr als einen Sitzstreik brauchen, um diese Drohung abzuwehren.

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