Sesshaftigkeit bedeutet Bewegung: Der russische Poet Welimir Chlebnikow war gleich in mehreren Zeiträumen zuhause. Daher blieb er den meisten Zeitgenossen unverständlich. Noch heute gilt er als äußerst komplizierter Dichter, der nach den Worten griff wie nach fernen Sternen. Ein Porträt

„Ich gehöre zum Knotenpunkt Wolga und Kaspisches Meer“, sagt über sich Wladimir Chlebnikow, der sich später auf die altrussische Art „Welimir“ nennt. Chlebnikow wurde im Bezirk Astrachan geboren – eine Herkunft mit orientalischen Traditionen, die ihm zweifellos die Impulse zu seinem Werk und seinen Vorstellungen über den russischen nationalen Kosmos gegeben hat. Dieses Ideenkonglomerat – nennen wir es verkürzend ruhig Weltanschauung – steht irgendwo zwischen Europa und Asien – Kulturkreise, die gleichermaßen auf den Intellekt Chlebnikows eingewirkt haben.

Chlebnikow hatte seine eigenen Bilder von der Zeit, dem Raum und den Menschen, die darin leben. Er lebte nicht in der Zeit und nicht in dem Raum, sondern in Zeiten und Räumen. Sein ruheloses Wanderleben war eine Form der Sesshaftigkeit, wie bei den asiatischen Nomaden, die er sehr geliebt hat. „Sesshaftigkeit“ kommt im Russischen von „Sattel“ (îñåäëîñòü – ñåäëî) und das bedeutet sowohl die Bewegung als auch den festen Aufenthalt.

Chlebnikow war eine extreme Persönlichkeit, sowohl was seine literarische Begabung als auch seine materielle Lage und seine Lebensweise angeht. Die Kunstkritiker nennen ihn „verlorener Sohn der russischen Poesie“. Für diesen Wort-Schamanen und -Alchemisten, der das Wort als eine selbständige Kraft ansah, war der poetische Weg nicht leicht und doch der einzig mögliche.

Sofort wurde der junge Chlebnikow in den Peterburger Kreisen der linken russischen Kunst, Poesie und Malerei akzeptiert. Die Futuristen fanden seine „schamanenhafte“, formelhafte Wortäquilibristik fantastisch. 1908 ist Chlebnikow als Student der Kasaner Universität der mathematischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen in das literarische Petersburg gekommen. Und er besuchte sofort „den Turm“ von Wjatscheslaw Iwanow, wo sich jeden Mittwoch Dichter, Philosophen, Maler, Musiker und Schauspieler versammelten. Möglich, dass die Mathematik einen bestimmendem Einfluss auf seine Theorie einer „Ausgeklügeltheit der Poesie“gab.

Seine Experimentierfreudigkeit führte ihn bald weg aus den symbolistisch-religiösen Kreisen, hin zu neuen jungen Künstlern wie Kasimir Malewitsch, Alexej Krutschenych, die Gebrüder Burljuk und Wladimir Majakowski, mit dem er den berühmten Sammelband „Ohrfeige für den gesellschaftlichen Geschmak“ sowie „Spiel in der Hölle“ und „Studien der Impressionisten“ herausgab. Unter den Protagonisten des Futurismus entsteht schließlich ein wahrer Chlebnikow-Kult um diesen „Poeten der stillen Genialität“ und „Kolumbus neuer poetischer Welten“, wie später einmal Majakowski sagt. Die Freundschaft mit Majakowski war von großer Bedeutung für beide Dichter: als Wladimir Chlebnikow bereits mit 37 Jahren starb, schrieb Majakowski: „ …er war äußerst unpraktisch und nachlässig im Verhältnis zur eigenen Poesie und zur eigenen Existenz. In seinem ganzen Leben hat er keine einzige Zeile selbst veröffentlicht. Sein armes schäbiges Leben war nichts anderes als ein Märtyrerdasein für die Idee der Poesie.“

Die Futuristen lebten in der Zukunft für die Zukunft; ein Gefühl für die Gegenwart hatten sie nicht. Darum mußten ihnen Chlebnikows kosmologische Entwürfe unverständlich bleiben, in denen Chlebnikow die Urzeit mit der Zukunft zu verbinden suchte. Doch viele Schriftsteller und Dichter des beginnenden 20. Jahrhunderts haben sein Talent wahrgenommen. Auch jetzt noch ist Chlebnikow ein äußerst komplizierter Poet, der nach Worten griff wie nach fernen Sternen.

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