Seit mehr als 20 Jahren begeistert die Band „Leningrad“ ihre Fans, zu denen sich auch unser Kolumnist zählt. In Almaty hatte er vor wenigen Wochen die Gelegenheit, sie endlich live zu sehen.

Als ich mich vor vielen Jahren dazu entschied, Slawistik und Russisch zu studieren, klang das noch wie ein verrücktes Abenteuer. Weder war ich jemals vorher in einem russischsprachigen Land gewesen, noch sprach ich auch nur ein Wort Russisch. Ich hatte ja keine Ahnung, auf was ich mich da einließ. Ich, jung, unschuldig und naiv, wusste nur, mein Lebenstraum war es, einmal auf dem Roten Platz in Moskau zu stehen.

Dann war es schließlich so weit. Mein Russisch war zwar noch immer mäßig, aber es reichte für meine erste Reise nach Russland, zum Studium nach Moskau. Im Moskauer Studentenwohnheim passierte dann Folgendes: Immer öfter fiel mir diese Melodie auf, dieser schreiende Gesang, dieses eine Lied. Alle um mich herum schienen pausenlos laut auszuschreien: „WWW LENINGRAD, WWW TOTSCHKA RU“. Zu diesem Punkt hatte das noch keine große Bedeutung für mich. Ich wusste nicht, wie sehr mich doch dieses wilde Herumgeschreie noch beeinflussen sollte. Rock war bis dahin nicht meine Welt. Dass das Lied eigentlich „WWW Leningrad SPB TOTSCHKA RU“ heißt, wurde mir erst später klar.

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Ich versuchte nach außen ja immer den Anschein des guten und ordentlichen Studenten zu wecken, auch wenn ich mich in Wahrheit mit meinen russischen Kommilitonen in viel zu vielen, tiefen Nächten auf der Treppe des Wohnheimes zum heimlichen und illegalen Wodkatrinken traf. Aber als Slawistikstudent interessierten mich die sowjetischen Vokalmusikgruppen mit klangvollen Namen, wie die „Halbedelsteine“, doch viel mehr, als dieses ewige „WWW LENINGRAD“. Ich lernte die Texte der „Halbedelsteine“ auswendig und übersetzte sie. Propagandistische Lieder, wie: „Meine Adresse ist kein Haus und keine Straße, meine Adresse ist die Sowjetunion“.

Einige Jahre später kam ich wieder als Student nach Russland, kam nach Sankt Petersburg, dem ehemaligen Leningrad. Und da war es wieder, dieser Song, dieses Geschrei: „WWW LENINGRAD“. Alle schrien es noch immer, und ich begann, in den kalten, barocken Straßenfluchten des eisigen, winterlichen Petersburgs, das Lied zu verstehen. Sergei Schnurow, der Sänger der gleichnamigen Rockband Leningrad, schrie: „Meine Adresse ist kein Haus und keine Straße, meine Adresse ist heute diese: WWW LENINGRAD…“ Die „Halbedelsteine“ sangen einst von ihrer Heimat, der Sowjetunion. Schnurow singt vom Saufen und Prügeln und Schimpfen auf den Straßen seiner Heimatstadt Sankt Petersburg. Es waren wilde Jahre und in den dunklen Winternächten im Studentenwohnheim wurde noch immer heimlich und versteckt viel zu viel Wodka getrunken. Schnurow und die Gruppe Leningrad waren ab jetzt immer dabei. Es wurde zum Soundtrack meiner Lehrjahre in Russland.

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Es gingen einige Jahre ins Land, als ich mich in einem Pub in Moskau wiederfand. Auf den Fernsehern lief ein Livekonzert von Leningrad. Spätestens, als die Band auf den Bildschirmen abermals diese Worte in die Menge spuckte, drehten die Leute in der Bar völlig durch. Das Publikum gröhlte jedes Lied über Stunden hinweg mit, Gläser und Bierfontänen flogen durch die Luft. Seitdem wusste ich, das will ich auch irgendwann mal live sehen.

Vor ein paar Tagen stand Sergej Schnurow mit seiner Band Leninrad in Almaty auf der Bühne. Ich war dabei. Schnurow gröhlte seine Schimpfwörter, seine vulgären Texte und seine Gossensprache in die Menge, und die feierte ihn dafür. So ist der „Russkij Rok“, laut und dreckig. Und da war es wieder, dieses „WWW LENINGRAD“. Ein Song, ein Geschrei, welches mich an meine wilden Studentenjahre erinnert. So jung und naiv, wie ich in den wilden Osten gekommen war, so viel wie ich hier über das Land und die Leute gelernt habe, so viele wilden Nächte und so viele Kater am nächsten Morgen. All das ist Russischer Rock, all das ist Leningrad.

Meine Lehrjahre sind vorüber, meine Herrenjahre haben begonnen. Ich bin wohl ein bisschen ruhiger geworden, vielleicht etwas vernünftiger und weiser. Aber wenn Leningrad spielt, kann ich noch einmal wild sein, viel zu viel Bier und Wodka trinken und laut russische Schimpfwörter herumgröhlen. Beim nächsten Konzert werde ich wieder dabei sein!

Philipp Dippl

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