Interview mit Alexander Dederer, Präsident der Deutsch-Kasachstanischen Assoziation der Unternehmer (DKAU) und Vorsitzender der Assoziation der gesellschaftlichen Vereinigungen der Deutschen Kasachstans (AGVDK) „Wiedergeburt“ zur Lage der deutschen Minderheit in Kasachstan.

Bild: privat. ‚Kongress der Deutschen Kasachstans in Astana.’/

Herr Dederer, nach der neusten Statistik des deutschen Innenministeriums kehren jede Woche zwei – bereits zuvor nach Deutschland emigrierte – Kasachstandeutsche nach Kasachstan zurück. Wer sind diese Leute, die heute aus Deutschland nach Kasachstan zurückkehren? Welchen Hintergrund hat ihre Entscheidung?

Ich möchte das Thema in zwei Punkte gliedern. Der erste Punkt betrifft die offizielle Politik. Sie begrüßt die Rückkehr der ethnischen Deutschen nach Kasachstan.

Präsident Nursultan Nasarbajew lud in einer Rede in Deutschland die Kasachstandeutschen ein, in ihre frühere Heimat zurückzukehren und das Land bei dem Aufbau seiner Industrie zu unterstützen. Viele Kasachstandeutsche haben in Deutschland Fachkenntnisse erworben, die in Kasachstan sehr gefragt sind.

Die Grenzen sind offen und aufgrund der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung ergeben sich für ethnische Deutsche viele Perspektiven, um in Kasachstan zu arbeiten. In Deutschland gibt es nicht mehr viele Marktlücken für Unternehmer, und es ist schwer, ein Unternehmen aus dem Nichts aufzubauen. In Kasachstan hingegen sind die Chancen, eine Nische zu finden, weitaus größer.

Zur Zeit kann ich die Gesamtsituation nicht genau abschätzen, weil sich nicht alle Rückkehrer an die regionalen deutschen Vereinigungen der „Wiedergeburt“ wenden. Es wäre wünschenswert, dass die Rückkehrer stärkeren Kontakt zu der „Wiedergeburt“ suchen. Die „Wiedergeburt“ ist die Selbstorganisation der Kasachstandeutschen im Land. Wir bieten viele kulturelle Veranstaltungen an. Außerdem stellt die Deutsch-Kasachstanische Assoziation der Unternehmer (DKAU) vielfältige Beratungsmöglichkeiten bereit.

Dabei ist es schwer zu sagen, ob die Rückkehrer vorhaben, ihren festen Wohnsitz nach Kasachstan zu verlegen. Möglich ist auch, dass sie ihre deutsche Staatsangehörigkeit behalten und gleichzeitig ihre wirtschaftlichen Chancen in Kasachstan realisieren.

Alexander Dederer.

Kann vielleicht die Rückkehr der ethnischen Deutschen nach Kasachstan als eine Folge der Integrationspolitik Deutschlands angesehen werden? Wahrscheinlich hatten die Zurückgekehrten geringe Deutschkenntnisse oder ein anderes Kulturverständnis?

In Deutschland gab es unterschiedliche Phasen für die ethnischen Deutschen aus Kasachstan. Diejenigen, die vor 1990 nach Deutschland emigrierten, wurden dort sehr herzlich aufgenommen. Sie denken dankbar an diese Zeit zurück. Dies war ein besonderer Beitrag des deutschen Volkes für die Umgesiedelten.

Als die Emigration Anfang der 1990er Jahre einen Massencharakter mit ungefähr 120.000 Menschen pro Jahr angenommen hatte, änderte sich die Meinung in Deutschland gegenüber den Kasachstandeutschen. Ich selbst habe die negative Einstellung gespürt. Sie wurde in verschiedenen Artikeln publik gemacht.

Beim Treffen mit deutschen Politikern habe ich öfters Fragen beantworten müssen wie: Warum kommen sie nach Deutschland? Was sind das für Deutsche? Manche hatten sogar die Vorstellung, dass die Kasachstandeutschen keine Deutschen mehr seien. Sie verfügten über keine Deutschkenntnisse und seien als ein eigenes Volk geformt worden. Es gab viele „Warum“-Fragen. Die negative Darstellung der Russlanddeutschen in einigen deutschen Medien und von einigen deutschen Politikern berührte viele Familien. Sie führte dazu, dass sich Kinder ihrer kasachstandeutschen Eltern schämten, wenn sie sich beispielsweise unter anderen Deutschen befanden.

Dann meinen Sie, dass die Integrationspolitik Deutschlands reformiert werden soll?

Die Emigrationswelle der Kasachstandeutschen ist bereits zu Ende. Getan ist getan! Es ist bereits zu spät, darüber nachzudenken. Unterstreichen möchte ich, dass die Kasachstandeutschen die gleichen Möglichkeiten haben müßten wie die Deutschen. Für viele Kasachstandeutsche ist es schwer, eine qualifizierte Arbeit in Deutschland zu finden. Für Hochschulabsolventen besteht das Problem, dass ihre Diplome in Deutschland nicht anerkannt werden. Außerdem haben einige Kasachstandeutsche Berufe erlernt, die in Deutschland nicht gefragt sind. Sie müßten stärker unterstützt werden, damit sie neue Kenntnisse erwerben könnten.

Des Weiteren besteht ein Problem im Angebot der Deutschkurse für Russlanddeutsche in Deutschland. Viele Kurse waren zu kurz, so dass die Russlanddeutschen nicht ausreichende Sprachkenntnisse bekommen konnten. Von Anfang an vertrat Deutschland die Ansicht, dass die Russlanddeutschen Deutsche seien, und daher auch Deutsch können müssten. Keiner wollte auf die negativen Erlebnisse wie Vertreibung, Repressionen sowie den Genozid der ethnischen Deutschen Rücksicht nehmen, obwohl viele Russlanddeutsche unter Bedingungen totaler Unterdrückung gelebt hatten.

Sie haben gesagt, dass die erste Emigrationswelle schon beendet ist. Sind Sie der Meinung, dass das Neunte Gesetz der Änderung des Bundesvertriebenengesetzes eine zweite große Emigrationswelle einleitet? Das Gesetz sieht eine Vermeidung von Härtefällen im Falle dauerhafter Familientrennung sowie die nachträgliche Einbeziehung des Ehegatten oder eines Abkömmlings in den Aufnahmebescheid des Spätaussiedlers vor. Meinen Sie, wird es eine Änderung des Gesetzes zum 70. Jahrestag der Vertreibung der Russlanddeutschen nach Kasachstan geben?

Ich fahre sehr viel durch die Regionen in Kasachstan, wo ethnische Deutsche leben. Die Mehrheit dieser Leute wartet auf die Gelegenheit, zu ihren Verwandten nach Deutschland umsiedeln zu können. Wird das Gesetz ein breites Spektrum der Verwandteneinbeziehung haben?

Das weiß ich zurzeit leider nicht. Falls dies vorgesehen ist, würde ich eine zweite große Emigrationswelle vorhersagen. Ich bezeichne es als eine Pyramide. An der Spitze stehen circa eine Million Kasachstandeutsche, die bereits nach Deutschland emigriert sind. Einige Millionen ihrer Verwandten leben aber immer noch in Kasachstan.

Jedes Jahr reduziert sich die Zahl der Schüler und Studenten, die in Kasachstan Deutsch lernen oder gelernt haben. Im Jahre 2005 waren es 500.000, 2010 – 125.000, 2015 könnten es nur noch einige Dutzend an deutscher Sprache und Kultur Interessierte geben. Könnten Sie vielleicht die Situation erläutern? Welche Herausforderungen sehen Sie für die deutsche Sprache sowie für die deutsche Kultur in Kasachstan? Welche Möglichkeiten sehen Sie?

Das ist ein sehr breites Feld. In Kasachstan gab es bereits gute Bedingungen und Traditionen für die Existenz der deutschen Sprache. Mit der Einführung des Drei-Sprachen-Programms in Kasachstan (Kasachisch, Russisch, Englisch) hat die deutsche Sprache an Bedeutung verloren. Eine Prognose für das Jahr 2015 ist kompliziert. Die deutsche Sprache ist in Vergessenheit geraten. Das passiert, weil alle nur beobachten und niemand agiert. Wir haben ein Konzept zur Erhaltung und Entwicklung der deutschen Sprache in Kasachstan ausgearbeitet. Es wurde als unsere Initiative an die kasachische Regierung weitergeleitet. Unser Sprachkonzept wurde von einigen Abgeordneten des kasachstanischen Parlaments unterstützt. Das genannte Konzept sieht das Erlernen der deutschen Sprache sowohl in Kasachstan als auch in Deutschland vor. Dazu gehört auch die Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern.
Kasachstan strebt eine aktive Integration in den europäischen Raum an. Das sieht das Programm „Der Weg nach Europa“ vor. Mit keinem anderen Land in Europa hat Kasachstan so enge Beziehungen wie mit Deutschland.

Außerdem streben die Kasachstandeutschen, die in Deutschland aufgewachsen sind und kaum noch Russisch sprechen, nach Kasachstan. Sie wollen ihre Herkunft und ihre Identität erneut kennen lernen. Das sind offene und engagierte junge Leute, die ich persönlich getroffen habe.
Zurzeit gibt es ein Programm zwischen dem Goethe-Institut und der kasachischen Regierung über die PASCH–Initiative (Partnerschulen der Zukunft). Im Rahmen dieses Programms findet der Schüleraustausch zwischen Deutschland und Kasachstan statt. In dem Kontext sehe ich die Notwendigkeit, ein neues Niveau der Beziehungen zwischen Kasachstan und Deutschland zu erreichen. Die Assoziation „Wiedergeburt“ hält beispielsweise ein Abkommen über humanitäre Zusammenarbeit für obligatorisch. In diesem Zusammenhang werden die Sozial- sowie die Bildungssphäre mit einbezogen. Diese Zusammenarbeit soll neben dem europäischen Modell der sozialen Sicherstellung sowie der Wahrung der deutschen Sprache und dem Projekt „Dialog der Zivilisationen“ vor allem die kasachische und die deutsche Gesellschaft fördern. Damit soll ein neues Niveau der Beziehungen zwischen unseren Ländern erreicht werden.

Daher bitte ich die deutschen Politiker sowie die deutschen Bürger, die ethnischen Deutschen aus Kasachstan nicht als Ballast, sondern als gleichberechtigte Volksgenossen zu betrachten. Die Kasachstandeutschen können sich positiv und aktiv in die Zivilgesellschaft einbringen.

Von welchen Geldern lebt die Assoziation? Reichen die Finanzen aus? Würden Sie sagen, dass sich die deutsche Seite in dieser Frage mehr einbringen sollte?

Seit 1993 hat Deutschland eine Entscheidung hinsichtlich der finanziellen Unterstützung der Kasachstandeutschen getroffen. Das Programm im Bereich der Selbstorganisation der Minderheit wird über das Innenministerium realisiert. Die Verantwortung für Kultur und Bildung liegt beim Auswärtigen Amt. Zwar werden die Gelder jedes Jahr gekürzt, aber dennoch funktioniert das Programm heute immer noch.

Ich habe eine differenzierte Sicht auf den Fall. Die Unterstützung Deutschlands in den Bereichen Sprache, Kultur und Ausbildung war für die Kasachstandeutschen einerseits sehr wichtig. Andererseits ist das Programm reformbedürftig. Und es geht hier nicht um die Aufrechterhaltung der Finanzierung. Wir möchten uns stärker um die Selbstorganisation der Kasachstandeutschen bemühen und die Projektarbeit im Hinblick auf die heutigen Anforderungen modernisieren. Von Kasachstan aus können wir die aktuelle Situation besser einschätzen als in Berlin. Die deutsche Minderheit in Kasachstan braucht nicht nur Hilfe, sondern übernimmt auch Verantwortung. Die deutsche Minderheit ist ein gleichberechtigter Partner, der bei der deutsch-kasachstanischen wirtschaftlichen, humanitären und politischen Zusammenarbeit eine wichtige Rolle spielt. Auf der Grundlage des bereits Erreichten möchten wir die Modernisierung unserer Partnerbeziehungen mit der Bundesregierung vorschlagen. Heutzutage liegen unseren Partnerbeziehungen noch die 20 Jahre alten Vorstellungen aus den Anfängen unserer Zusammenarbeit zugrunde, aber Kasachstan hat sich gewandelt, wir haben uns mitgewandelt und unsere Ziele und Aufgaben haben sich ebenfalls geändert. Eben deshalb ist ein Umbau der Zusammenarbeit notwendig.

Zugleich bemühen wir uns um eine Unterstützung seitens der kasachischen Regierung. Hier in Kasachstan fühlen wir uns wie eine Brücke zwischen den beiden Völkern, und verwirklichen auch die Mission, die Zivilgesellschaft in Kasachstan zu beeinflussen. So arbeitet die Assoziation „Wiedergeburt“ am Modell der europäischen Sozialsysteme und deren Übernahme. Und zwar sehr erfolgreich! Heute wird auch die „Deutsche Allgemeine Zeitung“ von der Regierung Kasachstans finanziert. Außerdem werden die deutschen Sonntagsschulen und zahlreiche Kulturveranstaltungen von unserer Regierung getragen. Die Kasachstandeutschen wollen sich aktiv in das Kulturleben des Landes einbringen. Es gibt das Projekt „Kulturerbe“, wo gemeinsame Berührungspunkte der kasachischen und der deutschen Geschichte, der Geographie und Kultur herausgestellt werden. Ein gutes Beispiel dafür ist der deutsche Forstfachmann Baum, dem Almaty sein grünes Kleid verdankt. Ein anderer Deutscher, Michaelis, war Lehrer des berühmten kasachischen Dichters und Philosophen Abai. In den Archiven der Humboldt-Universität Berlin werden die entsprechenden Dokumente aufbewahrt. Daher sind die ethnischen Deutschen nicht zuletzt eine Brücke zwischen den Zivilisationen, die die Beziehungen zwischen Kasachstan und Deutschland bejahend prägen können.

Haben die Kasachstandeutschen eine Zukunft? Und wie könnte ihre Zukunft in zehn Jahren aussehen?

Es findet eine Assimilation statt, das ist eine Tatsache. Dennoch gibt es eine große Gruppe engagierter junger Kasachstandeutscher, die ihre europäische Herkunft beweisen und sich behaupten will. Das ist der neue Nachwuchs der ethnischen Deutschen. Die momentan prägendsten unter ihnen sind der Vizeminister für Industrie und Hochtechnologien Kasachstans, Albert Rau, sowie der Staatssekretär im Landwirtschaftsministeriums, Eugen Aman.

Interview: Julia Botschkowskaja, Stipendiatin des Internationalen Parlaments-Stipendiums des Deutschen Bundestages aus Kasachstan.

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