Kasachstans Hauptstadt lädt im Winter nicht immer zum Rausgehen ein. Dabei hebt sich an diesem Januartag langsam der Nebel, und die Sonne kommt zum Vorschein. Es sind, für Astana schon beinahe milde, minus 17 Grad Celsius.

Wer ist die Schönste? Ein Modelcasting im Einkaufszentrum “Khan Shatyr”.

Am Anfang des etwa vier Kilometer langen Nurzhol-Boulevard in der Stadtmitte fällt einem sofort die Shopping-Mall „Khan Shatyr“ in Form eines schrägen weißen Zeltes ins Auge. Drinnen ist ein Laufsteg aufgebaut; mehrere junge Mädchen gehen nacheinander auf und ab und posieren vor einer Jury, bestehend aus zwei Frauen. Angefeuert werden sie von ihren Müttern, die alles hektisch mit dem Smartphone festhalten. Ein paar Passanten bleiben stehen und schauen zu. Aus einem Lautsprecher dröhnt kasachstanische Dance-Musik. Der Handyverkäufer im Laden gegenüber schüttelt nur mit dem Kopf. „Das machen sie hier alle paar Wochen“, erzählt er. Ein wenig erinnert die Szenerie an die Castings von „Germany’s next Topmodel“ – nur in Klein und ohne TV-Kameras. Ob heute eine glückliche Gewinnerin dabei sein wird? Bisher sieht es nicht so aus.

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Die kasachische Eisprinzessin

Auf dem Nurzhol-Boulevard befindet sich auch der Bayterek-Turm, eines der Wahrzeichen Astanas. Eine Reporterin und ein Kameramann des „Perwy Kanal Ewrasija“, einem der größten, privaten TV-Sender im Land, drehen gerade einen Bericht über Bauprojekte in der Stadt. Gulnaziya Schalgakysy sieht in ihrem langen hellblauen Steppmantel fast wie eine Eisprinzessin aus. Sie trägt trotz Schneemassen und Eiseskälte schwarze, schicke Schuhe und eine dünne Strumpfhose.

Ursprünglich kommt Gulnaziya aus Almaty, lebt aber mit Mann und Kind nun in Astana. Im Team hat sie klar das Sagen und scheucht ihren Kameramann weiter über die eisigen Wege zum nächsten Drehort. Weil endlich gutes Wetter ist und der Schnee so schön auf den Tannennadeln glitzert, macht der Kameramann mit dem Handy noch ein Foto von ihr in dieser Szenerie. Später wird sie das Bild auf Instagram posten und dazu schreiben: „Spür die Zukunft, die Perspektive eines glücklichen Lebens. Weil du alles kannst! Eine Frau kann alles!!!“

Gulnaziya steht beispielhaft für die neue, moderne, kasachische Frau. Erfolgreiche Journalistin, liebevolle Mutter, immer gut gekleidet und perfekt geschminkt, mobil und online unterwegs. So wie sie scheinen viele Frauen im Zentrum der Hauptstadt zu sein. Häufig mit einem Becher Kaffee oder Tee „to go“ in der Hand oder am Mobiltelefon. Vor allem aber stellt sich Gulnaziya als unabhängige Frau dar: Auf vielen ihrer Fotos ist sie mit ähnlich gestylten Freundinnen im Businesslook zu sehen. Ihr Mann taucht nur selten auf ihrem Profil auf.

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Politik ist Männersache

Auf der linken Seite des Bayterek-Turms steht ein großes Gebäude, das fast wie ein Schloss wirkt: das Außenministerium. An einem Seiteneingang befinden sich Schranken und ein Kontrollposten. Drinnen wartet eine Sicherheitskontrolle mit Detektor und Gepäckkontrollband. Viele Männer in Anzügen und unterschiedlichsten Uniformem passieren die Kontrolle. Die Entscheidungsträger in der kasachstanischen Gesellschaft sind vorrangig Männer. Frauen sind in Spitzenpositionen von Politik und Wirtschaft noch immer unterrepräsentiert. So sind beispielsweise in der aktuellen Regierung von 18 Ministern nur zwei weiblich.

Dabei waren Frauen zu Zeiten des Kommunismus bereits in vielen Bereichen der Arbeitswelt mit Männern gleichgestellt. Doch nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde auch hier, wie in vielen ehemaligen Sowjetstaaten, die Rückkehr der Frau zu Kindererziehung und Familie gefördert. Die arbeitende Frau wurde mit alten kommunistischen Idealen assoziiert. Dennoch zeichnet sich über das vergangene Jahrzehnt ein langsamer Anstieg von Frauen in Führungspositionen und Politik in Kasachstan ab – wenn auch nur in den niedrigeren Positionen im Parlament. Hier am Seiteneingang des Außenministeriums herrscht jedenfalls noch ein einhundertprozentig männliches Regime.

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Mehr als nur Tochter

Statue einer Frau in Astana.

In einem Restaurant im 27. Stock eines Hochhauses – mit einem fantastischen Blick auf die erleuchteten Gebäude der Stadt – arbeitet Madina. „Sie sehen müde aus“, beginnt die Kellnerin ein Gespräch. Nur einen einzigen Gast hat sie an diesem Abend zu bedienen. „Im Januar ist es ruhig, alle sind noch im Urlaub. Keiner macht Geschäfte“, erklärt sie die Leere im Restaurant.

Madina, Anfang 20, studiert Business und Finanzen in Astana. Eigentlich kommt sie aus einem kleinen Dorf in Westkasachstan. Ihre Familie sieht sie nur selten. Eine Zugfahrt dorthin dauert mindestens drei Tage. Aber sie telefoniert täglich mit ihren Eltern. Heute muss sie von 17 Uhr bis zwei Uhr nachts arbeiten. Dafür stelle das Restaurant extra einen Shuttlebus für die Mitarbeiter bereit, der sie nach Hause bringt, erzählt sie. Das würde auch ihren Vater beruhigen. „Je älter Väter werden, desto mehr Sorgen machen sie sich um ihre Töchter. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz“, lacht Madina.

Sie weiß noch nicht, ob sie später im Finanzbereich arbeiten will. „Ich kann gut mit Zahlen umgehen. Deshalb studiere ich das.“ Madina erzählt, dass ihre Mutter lange als Jeans-Verkäuferin gearbeitet und vor fünf Jahren ein eigenes Geschäft eröffnet hat. Die Mutter wünscht sich, dass Madina dieses Geschäft übernimmt. „Ich möchte meiner Mutter zwar helfen, aber nur dieses Geschäft – das ist mir zu wenig. Vielleicht kann ich es erweitern.“ Die junge Frau fühlt sich ihrer Familie sehr verpflichtet, aber eigentlich möchte sie nach dem Studium erst einmal die Welt sehen und verreisen. „In Kasachstan ist es Tradition, schon früh zu heiraten und möglichst viele Kinder zu bekommen. Du wirst immer gefragt: Was kannst du für dein Land tun?“, erklärt Madina. Sie findet das nicht so gut. „Ich habe eine Freundin, die ist mit siebzehn zum ersten Mal Mutter geworden. Ihre Eltern sind streng muslimisch. Aber mit siebzehn ist man doch selbst noch ein Baby. Ich kann mich doch nicht um ein Kind kümmern, wenn ich selbst nicht weiß, wer ich bin“, findet sie.

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Einer muss der Starke sein

Madina hat sich viele Gedanken über das Thema gemacht und auch über Beziehungen zwischen Männern und Frauen. „Bei uns Zuhause ist es etwas anders: Meine Mutter ist die Starke. Sie hat das Sagen. Mein Vater ist ein sehr, sehr lieber Mann. Fast zu lieb. Aber einer muss das sein in einer Partnerschaft. Sonst funktioniert das nicht“, ist sich Madina sicher. Wer ihr zuhört, gewinnt den Eindruck, dass sie wohl nach ihrer Mutter kommt. Sie hat eine Bitte zum Abschied: „Zeigen Sie, dass Frauen in Kasachstan nicht nur kleine, stille Mädchen sind, die dem Mann gehorchen. Es gibt so viele andere hier.“

Dieser Artikel ist im Rahmen eines Recherche-Stipendiums der Heinz-Kühn-Stiftung zum Thema „Frauenbilder– und Frauenrechte in Kasachstan“ entstanden.

Verena Lammert

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