Der Islam in Kasachstan lebt erst in den letzten Jahren wieder auf. Während der Sowjetzeit spielte auch hier in Kasachstan für die meisten Menschen Religion kaum eine Rolle. Heute gewinnen religiöse Riten und Traditionen wieder eine größere Bedeutung in der Gesellschaft.

Die Muslime in Kasachstan haben Eines gemeinsam: Sie bezeichnen sich als Muslime und Musliminnen, aber das ist auch schon die einzige Gemeinsamkeit. Rauschan, Gulnur, Aigul, Tomiris und Ismail etwa zählen sich zu den in Kasachstan lebenden Muslimen – oder zumindest taten sie das einmal. Befragt nach ihrem Glauben und ihrer religiösen Alltagspraxis wird aber offensichtlich, dass ihre Glaubensauffassungen sehr divers sind. Die Geister spalten sich vor allem an der Frage „Ja“ oder „Nein“ zum Kopftuch. Während die einen sagen, der Schleier habe nichts in der Tradition der überwiegend muslimischen Kasachen verloren, bestehen die anderen auf die Bedeckung der Haare.

Die Business-Trainerin, Rauschan, ist muslimische Kasachin und spricht sich entschieden gegen das Kopftuch aus. „Es ist untypisch und steht im Widerspruch zu den kasachischen Traditionen“, sagt sie. Zwar seien Kasachen traditionellerweise Muslime, der Islam habe sich aber hierzulande mit dem vor der Islamisierung in Kasachstan vorherrschenden Glauben an Tengri vermischt. „Und der Schleier gehört weder zu meiner Kultur, noch zu meiner Identität“, betont Rauschan.

Rauschan erzählt, dass ihre Familie schon in der Eltern- sowie Großelterngeneration nie sehr religiös gewesen sei. Sie seien alle der Meinung, dass der eigene Glaube nicht sichtbar nach außen getragen werden sollte. Außerdem betont sie: „Kasachinnen haben niemals zuvor ihre Haare bedeckt. Die zu dicken Zöpfen geflochtenen Haare galten immer schon als Schönheitsmerkmal für unsere Mädchen.“ Deshalb kann sie das Verdecken der Haarpracht nicht leiden.

Die 46-jährige Kasachin Gulnur ist Sekretärin und teilt Rauschans Meinung in weiten Teilen. Sie selbst bezeichnet sich als muslimisch und tengrianisch geprägt, zugleich ist sie areligiös. Bis vor kurzem wusste sie auch nicht, ob sie sunnitische oder schiitische Muslimin sei: „Das war nie wichtig bei uns, und ich bin mir sicher, dass auch meine Eltern darüber nicht Bescheid wissen.“ Zu den islamischen Traditionen, die für kasachische Muslime seit Generationen Pflicht sind, zählen laut Gulnur jedenfalls die Beschneidung von Buben oder die Art der Trauerfeiern und Bestattungen.

Während der letzten Jahre ist ihr aufgefallen, dass mehr und mehr junge Kasachinnen ein Kopftuch tragen: „Das ist neu hier. Früher wussten wir, dass das ausländische Touristinnen sind. Und das hat sich verändert“, erzählte sie. „Ich würde zwar nicht sagen, dass ich den Schleier mag. Aber natürlich ist das auch nicht meine Sache, sondern geht nur die Trägerinnen etwas an.“ Bei ihren zukünftigen Schwiegertöchtern hofft sie darauf, dass diese ihre Haarpracht der Öffentlichkeit zeigen.

Gulnur kann sich vorstellen, dass diese für Kasachstan neue Entwicklung ihre historischen Wurzeln in der Sowjetzeit hat, als jede Form von religiöser Praxis Repressionen ausgesetzt war. „Vielleicht machen das jetzt manche, weil sie dürfen. Trotzdem finde ich das seltsam, weil Kasachinnen auch vor der Sowjetzeit – im Gegensatz zu Usbekinnen – keine Schleier getragen haben.“

Sie nimmt zudem an, dass immer die Familie oder der Ehemann hinter dem Tragen des Schleiers stehen. Sie kann sich nicht vorstellen, dass die Frauen sich freiwillig dazu entscheiden. „Das ist doch nicht angenehm und muss sehr heiß sein“, sagt sie. Persönlich hat sie aber noch nie mit einer verschleierten Muslimin darüber gesprochen. Trotz dieser gegensätzlichen Interpretationen des Islam in Kasachstan ist laut Gulnur von innerislamischen oder interreligiösen Spannungen bisher nichts zu spüren.

Die 22-jährige Kasachin Aigul, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, ist vor drei Jahren vom Islam zum Protestantismus konvertiert. Auch ihre Familie war ähnlich wie die von Rauschan und Gulnur nie besonders religiös, bezeichnete sich aber als muslimisch. Die familiären Hintergründe der drei ähneln einander also sehr. Aufgrund der liberalen Haltung von Aiguls Familie wurde diese von der Entscheidung der 22-Jährigen mit voller Wucht getroffen. Die Reaktionen waren sehr negativ. Aber Aigul fühlte sich durch das Lesen religiöser Texte dem Protestantismus viel näher als dem Islam. Heute ist sie sich nicht mehr ganz sicher. Sie ist wieder auf der Suche nach ihrer Religion. Denn zu welchem Glauben sie sich zählt, kann sie derzeit nicht beantworten.

Die 23-jährige Tomiris, die ihren Namen ebenfalls nicht preisgeben wollte, ist ebenfalls Kasachin. Im Gegensatz zu den anderen trägt sie aber ein Kopftuch, und das schon seit drei Jahren – obwohl sie nicht verheiratet ist. Ähnlich wie bei Aigul fiel ihre Entscheidung durch das Lesen religiöser Texte, und auch Tomiris war mit sehr negativen Reaktionen vonseiten ihrer muslimisch-tengrianischen Familie konfrontiert. Ihre Angehörigen beschwerten sich, dass Tomiris so ihre Schönheit verstecke und den Traditionen zuwiderhandle. Ihrer Meinung nach hätten ihre Eltern aber keine Ahnung, wie man den islamischen Regeln folgend leben sollte. „Eine echte Muslimin sollte ein Kopftuch tragen“, sagt sie etwa. Zugleich betont sie, dass jede diese Entscheidung für sich selbst treffen müsse und sie nichts gegen Musliminnen habe, die unverhüllt sind.

Diskriminierungserfahrung hat Tomiris bereits zur Genüge gemacht: Gelegentlich fühlt sie sich unwohl in öffentlichen Transportmitteln, vor allem wenn andere Insassen lautstark über sie lästern. „Meistens sind es die Alten, die sich beschweren“, erzählt sie. Die Jüngeren verhielten sich ihr gegenüber eher neutral, manche reagierten sogar sehr positiv. Schwierig sei die Jobsuche – nur wenige Arbeitgeber in Almaty hätten Verständnis für sie und würden das fünfmalige Gebet untertags zulassen. „Mein Chef ist auch religiös und lässt mich beten. Deshalb arbeite ich im Einkaufszentrum, wie viele anderer Muslime. Wir arbeiten meistens bei privaten Unternehmen wie in Basaren oder kleinen Geschäften, weil wir keine staatlichen Stellen bekommen“. Trotz dieser Erfahrungen fühlt sich Tomiris wohl in Kasachstan und in Almaty.

Während Rauschan am liebsten keine einzige Muslimin mit Kopftuch sehen möchte, hofft der 50-jährige Ismail auf das Gegenteil. Der Moscheebesucher ist Bauer und unterstützt vor allem Frauen und Männer, die seiner Meinung nach den richtigen Glauben haben und ihn auch verbreiten. Ismail ist erst seit fünf Jahren zu einem strenggläubigen, seinen eigenen Worten nach „echten Muslim“ geworden. Seither fastet er im Ramadan, betet fünf Mal am Tag und versucht gemeinsam mit seiner Frau alle religiösen Regeln einzuhalten.

Um Diskussionen über religiöse Praxis in seinem Freundes- und Bekanntenkreis zu vermeiden, spricht er mit ihnen möglichst nicht darüber. Trotzdem hofft Ismail darauf, dass alle mit der Zeit zum Islam konvertieren. Auch ist er überzeugt davon, dass die Zahl der Muslime in Kasachstan in den kommenden Jahren noch wachsen wird. Die Traditionen der vorislamischen Kultur findet er mit seiner Religion unvereinbar – und trotzdem feiert er so manch nichtislamisches Fest gerne, wie etwa das Neujahrsfest Naurys. Zu diesem Anlass wird alljährlich in den Tagen um den 21. und 22. März groß auf den Straßen Kasachstans gefeiert: Mit öffentlichen Konzerten, Märkten und Jurten, in denen traditionelle Süßspeisen verzehrt werden.

Was die Zukunft bringt und ob Kasachstan auch in Zukunft von innerislamischen und interreligiösen Spannungen verschont bleiben wird, muss abgewartet werden. Steigt die Zahl der konservativen oder strenggläubigen Muslime, sowie die Zahl der Kopftuchträgerinnen weiterhin kontinuierlich an, ist eine gesellschaftliche Spaltung durchaus vorstellbar – zumindest innerhalb der kasachischen Bevölkerung, die immerhin mehr als die Hälfte der Kasachstans ausmacht. Die kasachstanische Politik, die religiöse Vielfalt im eigenen Land gutheißt und erhalten will, ist hier gefragt: Denn es bleibt zu hoffen, dass möglichst bald ein gesamtgesellschaftlicher Umgang mit dieser Tendenz gefunden wird. Nur dann kann die Verhärtung von Fronten zwischen Konservativen und Liberalen verhindert werden.

Von Oybek Khamdanov, Madinabonu Karimova, Nurgul Zhazykbayeva und Mona El Khalaf

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