Der Anblick von Öskemen (Ust-Kamenogorsk) wird geprägt von rauchenden Schornsteinen. Stolz sind die Einwohner der Stadt im Osten Kasachstans auf ihr Eishockeyteam.
Der über der Stadt thronende grüne Köktöbe in Almaty, das 100 Meter hohe Baiterek-Monument in Astana – liegt der Reiz der Besuche solcher kasachischen Sehenswürdigkeiten nicht darin, dass man auf die jeweilige Stadt eine ganz andere, einzigartige Perspektive erhält? Denn während man beim Schlendern durch die Stadt immer nur einzelne Elemente wie Paläste, historische Häuser, Geschäftsstraßen oder Parks vor Augen hat, bekommt man von solch einem hohen Punkt eine Art Gesamteindruck des Stadtbildes.
Auch in Öskemen (russisch: Ust-Kamenogorsk), der Provinzhauptstadt der Region Ostkasachstan, kann man in solch einen erhabenen Anblick versinken, wenn man auf einen der hohen Hügel der Altai-Ausläufer steigt, welche nördlich der Stadt beginnen: hier dominieren die Stadtsilhouette gut ein Dutzend, teilweise unentwegt rauchende, hohe Fabrikschornsteine, wobei man gleich gewahr wird, dass man auf eine Industriestadt blickt. Genauer gesagt befindet man sich im Zentrum der Buntmetallurgie Kasachstans, denn verschiedene Unternehmen produzieren hier für den Weltmarkt aus dem Gestein und den Erden des Altai-Gebirges Zink, Kupfer, Blei, Kadmium, Quecksilber, Magnesium, Gold, Silber und uranische Brennstoffe. Dazu kommt ein Werk von AsiaAuto, welches zu den größten Autozulieferern in Zentralasien gehört. Wo vielleicht in vielen Industriestädten Westeuropas die Beschäftigten in Furcht vor einer möglichen Schließung ihrer Fabriken leben, schaut man hier gelassen in die Zukunft, werden doch die hier produzierten Produkte auf dem Weltmarkt immer mehr gefragt und sind die Reserven im Altai-Gebirge scheinbar unerschöpflich. Erst im Sommer 2011 eröffnete die 22.000 Mitarbeiter beschäftigende Kazzinc Company eine neue Kupferfabrik und im Umland sind weitere Investitionen geplant.
Dicke Luft
Allerdings müssen die Bewohner für ihre Fabriken auch einen Preis zahlen: Wie man sich denken kann, ist die Luft durch die ständig rauchenden Schornsteine miserabel. Gerade an windarmen Sommertagen legt sich ein dichter Smogschleier über die Stadt, und ein Gasgemisch reizt die Nasen und Schleimhäute der Bewohner. So wie man sich in den Alltagsgesprächen aller Orte der Welt gerne über das Wetter unterhält, unterhält man sich hier über die Luft: An windigen Tagen lobt man die gute Luft, an warmen, heißen Tagen beklagt man sich über den aufdringlichen Gestank. Böse Zungen gehen dann sogar so weit, zu behaupten, „Sieh an, der Bürgermeister ist wieder einmal aus der Stadt.“ Über die gesundheitlichen Auswirkungen der Luftsituation kann nur spekuliert werden, Tatsache ist, dass die Rate von Atemwegerkrankungen und Krebs hier deutlich höher ist als in anderen Städten Kasachstans.
Wie es klassische Industriestädte an sich haben, ist auch das Stadtbild von Öskemen funktionell ausgerichtet. Große, hohe Wohnblocks, die hier aus Betonplatten oder rötlichem Ziegelstein errichtet wurden, bilden das Straßenbild im Zentrum, nur in den Randvierteln kleine Einfamilienhäuser mit Gärten. Erholung findet die Bevölkerung in zwei Parks im Zentrum oder an den kilometerlangen Promenaden des Irtysch und der Ulba (ersterer ist mit 4.248 Kilometern der längste Nebenfluss der Welt), die hier zusammenfließen.
In den letzten Jahren entwickelte sich nördlich des Irtysch ein kleines kulturelles Zentrum. Erst im vergangenen Sommer wurde hier eine prächtige Moschee eröffnet, die mit ihrem Platz für 3.000 Gläubige zu den drei größten Moscheen des Landes gehört und ihren hohen, schlanken, oben spitzzulaufenden Fenstern einen Hauch von Gotik ausstrahlt. Gleich neben ihr befindet sich ein Kulturpark, der einen kleinen Zoo mit Tieren aus dem Altaigebirge und ein Freiluftmuseum beherbergt. Hier sind traditionelle Häuser verschiedener Nationalitäten Kasachstans ausgestellt, die selbst in der Inneneinrichtung deren Alltagskultur getreu darzustellen versuchen. Zudem wird bald ein neues, großes Theater fertiggestellt sein.
Die Anfänge der Stadtgeschichte
Jene traditionellen Häuser stellen auch eine kleine Erinnerung an die Anfänge der Stadtgeschichte dar. Diese begann im 17. Jahrhundert, als das Russische Reich nach Zentralasien expandierte. Die Expediteure sahen die Halbinsel zwischen Irtysch und UIba als geeignet an, eine kleine Festung auf ihr zu erbauen, die damals 363 Personen fasste. Um diese Festung bildete sich über die Jahre allmählich eine Siedlung, die dann zu Beginn des 20.Jahrhundert durch die Industrialisierung (damals vier Seifenfabriken und Speiseölproduktion) und Fund von Gold im Umland explosionsartig anwuchs und 1912 schon 165.000 Menschen fasste. Durch den Bau großer Fabriken in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wuchs die Stadt dann noch rascher, und heute leben hier über 300.000 Menschen.
Die Bevölkerung setzt sich hauptsächlich aus gleichviel Kasachen und Russen zusammen, wobei der Anteil der kasachischen Bevölkerung, wie in so vielen anderen Städten Kasachstans, im Steigen begriffen ist, da seit dem Zusammenbruch des Kommunismus viele Russen nach Russland umsiedeln.
Der Stolz der Stadt ist ihre Eishockey-Mannschaft Kazzinc-Torpedo, die bei ihren Heimspielen den 4.400 Plätze fassenden Sportpalast füllt. Seit der Saison 1986/87 kämpfte sie um die Meisterschaft der russischen Staatsliga, nachdem 1996 aber alle nichtrussischen Mannschaften aus dieser verbannt wurden, spielt die Mannschaft nun in der russischen „Wysschaja-Liga“, in der man dieses Jahr einen Mittelfeldplatz belegte. In der kasachischen Liga (Einführung 1993) ist Torpedo mit insgesamt 13 Meisterschaften uneingeschränkter Rekordhalter. Einige Spieler aus Öskemen trugen in der Geschichte des sowjetischen Eishockeys zu ruhmreichen Titeln wie Olympiasieger oder Weltmeister bei.
Daniel Gallmann ist Sprachassistent am Sprachlernzentrum Öskemen