Er zählt zu den schönsten Seen Kasachstans, und ist nicht nur vom Ufer aus betrachtenswert. Der See Kaindy ist ein beliebstes Ausflugsziel sowohl für Wanderer als auch für Taucher. Obwohl in der Mitte des 400 Meter langen Sees Fichtenstämme herausragen, ist er nach einem Birkenwäldchen in der Nähe benannt. „Kaindy“ heißt „reich an Birken“. Unser Autor begab sich auf eine Reise zu diesem ungewöhnlichen Bergsee.
Es ist Freitagmorgen, 6 Uhr, als wir am Busbahnhof Sajachat in Almaty ankommen. Hier, in der ehemaligen Hauptstadt Kasachstans, hat der Tag längst begonnen. Zwei alte Frauen richten gerade ihren Straßenkarren ein, an dem sie Kaugummis, Taschentücher und andere reisenützliche Dinge verkaufen. An der Bushaltestelle ist das Geschrei groß. Taxifahrer rufen die Namen verschiedener Zielorte durcheinander, Preise werden verhandelt, unterbrochen von immer wieder neu aufkommenden Hupkonzerten.
Wir wollen nach Saty, einem kleinen Dorf im Südosten Kasachstans, etwa 220 km entfernt von Almaty. Dort, im Norden des Kungej-Alatau-Gebirges, liegt der Kaindysee, einer der mystischsten Orte Kasachstans, so sagt man. Fahrtzeit: 5-6 Stunden. Ungläubig schauen uns die Taxifahrer an. Ein Bus? Der sei schon längst weg. Sie schicken uns zwei Straßen weiter. Dort herrscht ein ähnliches Bild. Wir werden von einem rauchenden Mann zum nächsten geschickt bis wir schließlich vor einem Großraumtaxi landen. Zielort: Schalanat, nur wenige Kilometer von Saty entfernt.
Nach etwa einer Stunde ist der Wagen voll und es geht los. Raus aus der Stadt, vorbei an kleineren und größeren Gemüseständen, mit Wassermelonen beladenen Anhängern und wartenden Menschen in der „Asia-Hocke“. Nach zwei Stunden der erste Halt an einer Art kasachischer Raststätte. Entlang der Straße gibt es kleine Läden mit Urlaubsbedarf und Obst aus dem eigenen Garten. LKWs und Busse stehen dich aneinandergedrängt. Es riecht nach Schaschlik, Rauchwolken umhüllen die Grillstände. Und tatsächlich sieht man die gegrillten Lammspieße überall trotz der frühen Tageszeit.
Nach einem fleischreichen Frühstück für Kairan, unseren Fahrer, geht es weiter. Aus dem Auto dröhnt der Sound von kasachischen Diskoliedern, die Kairan immer wieder zu gewagten Überholmanövern inspirieren. Die restlichen Mitfahrer schlafen noch, als sich vor uns die ersten kahlen Hügel erstrecken. Nur ein kleines Stück weiter östlich beginnt der Charyn Canyon, eine riesige Schlucht, die sich durch die trockene Gegend zieht. Von hier aus führt die Straße schnurrgerade südwärts, in Richtung Berge – ein bisschen erinnert sie an die amerikanischen Highways.
Die Fahrt bis hierher kostet uns 5 Euro
Plötzlich wandelt sich die Landschaft, als hätte man eine neue Klimazone erreicht: Das Kungej-Alatau-Gebirge. Endlose grüne Weiden voller Schafe und Kühe, kleine Holzhäuschen mit blühenden Gärten und im Hintergrund die Berge in schillerndem Saum, als ob sie mit einem grünen Fell überzogen wären. An den Hängen immer wieder kleine Heerformationen aus dunklen Fichten. Am Himmel kreisen zwei Adler. Wir erreichen Schalanat. Die restlichen 37 Kilometer durch die Berge müssen wir per Anhalter zurücklegen. Die Fahrt bis hierher kostet uns 5 Euro pro Person.
Ein LKW nimmt uns die restliche Strecke mit. Auf dem Armaturenbrett klebt ein Bild von einer leichtbekleideten Frau. Der Fahrer nickt grinsend hinüber. Aus Deutschland? Berlin? Er nickt wieder. „Mein Vater war dort nach dem Krieg stationiert. Sowjetarmee.“ Dann schweigt er. Über eine Schotterstraße rumpeln wir quer durch die Berge, bis wir in Saty ankommen. Der Ort liegt in einer Hochebene, umgeben von zwei Bergreihen, ein Fluss zieht sich durch das fruchtbare Tal. Saty selbst wirkt zur Mittagszeit wie ausgestorben. Kühe traben die Hauptstraße entlang, ein paar Kinder spielen im Schatten der Bushaltestelle. Einer der drei Dorfläden ist offen, die Regale voller Wodkaflaschen, doch Wasser gibt es keins. Das holt man hier am Brunnen oder direkt vom Bach, erklärt die Verkäuferin etwas verwirrt.
Die Flut der Städter
Am Ende der Hauptstraße hängt ein Schild vor einem der Häuser. „Guest House“ steht darauf. Eine ältere Frau in Blumenkopftuch und blauer Schürze öffnet uns und bietet uns an, bei ihr zu übernachten. Zehn Euro pro Nacht, Frühstück und Abendessen inbegriffen. Wir willigen ein. Noch ist das Haus leer, doch in der Nacht kommen weitere Gäste. Jedes Wochenende kommen die Tourbusse aus Almaty, erzählt die Gastgeberin, dann überschwemmen die Städter das Dorf für kurze Zeit. Das Programm ist normalerweise dasselbe: Tag eins Kolsaisee, Tag zwei Kaindysee. Auch deswegen entscheiden wir uns, schon am nächsten Tag zum Kaindysee zu wandern.
Am Abend kocht Tante Kuljasch – so stellt sie sich vor – Kuyrdak, ein traditionelles kasachisches Gericht aus Kartoffeln, Karotten und Lammfleisch. Auf Kasachisch erzählt sie, dass sie ihr ganzes Leben lang in Saty gelebt hat. Die meisten hier sprechen lieber und besser kasachisch als russisch – nicht so wie in den Städten oder im Norden Kasachstans, wo Russisch immer noch die gängigste Sprache ist. Kuljasch ist Lehrerin an der Grundschule, nebenbei kümmert sie sich um die Gäste und das Haus. Ihr Mann arbeitet in der nächst entfernten Stadt, auch die Kinder habe es in die Großstadt gezogen. „Viel Arbeit“, sie nickt. Wasser holen, Garten pflegen, Wäsche, Kochen und so weiter. Der Tag beginnt beim ersten Sonnenlicht und endet weit nach Sonnenuntergang. „Aber nächstes Jahr gehe ich in Pension“. Sie lächelt müde und schenkt Tee nach.
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Nach dem Frühstück am nächsten Morgen machen wir uns auf den Weg. Es gibt nur eine Straße zum See, ein Schild deutet an: 12 km. Der Weg führt an einem Bach entlang, sie kreuzen sich, verschmelzen miteinander. Dann hüpft man über ein paar Steine hinüber, während das eiskalte Wasser an einem vorbeisprudelt. Am Straßenrand grasen Schafe und die berühmten kasachischen Pferde, an deren Schönheit man sich kaum sattsehen kann. Immer mal wieder fährt ein Jeep an uns vorbei, wir sind die einzigen Wanderer weit und breit. Ob es an der glühenden Mittagssonne liegt oder an mangelnder Wanderlust? Wahrscheinlich an beidem, denken wir uns. Nach etwa drei Stunden erreichen wir den Eingang zum Nationalpark. Aus der kleinen Hütte steigt Zigarettenqualm, ein junger Mann fragt rauchend nach den zwei Euro Eintrittsgebühr.
100 Jahre alter Unterwasserwald
Zunächst durch einen lichten Birkenwald, dann den Hang hinauf, zwischen hohen Tannen hindurch bilden wir uns ein, endlich die kalte Seeluft einzuatmen. Doch einen Blick auf das Wasser können wir noch nicht erhaschen. Schließlich erreichen wir den letzten Halt vor dem See. Wir befinden uns auf etwas mehr als 1800 Metern, die Grenze zu Kirgisien ist nur wenige Kilometer entfernt. Einige Jeeps stehen vor einem Holzzaun, dahinter stochert eine Kasachin in einer großen Pfanne über einem Feuer herum. Ein kleines Kind kommt aus einer der drei Jurten, den traditionellen Zelten der kasachischen Nomaden, herausgerannt. Man kann dort essen oder auch übernachten, wenn man möchte. Die Frau bringt uns einen Tee. „Später gibt es auch Schaschlik, wenn ihr möchtet“, sagt sie.
Wir laufen weiter. Ein kleiner Pfad führt hinunter zum Wasser. An einer Stelle bauen gerade ein paar Männer ihr Zelt auf, gleich dahinter beginnt der See. Das Wasser schimmert smaragdgrün, dann türkis, am Ende dunkelblau. Kahle Baumstämme ragen kerzengerade aus dem Wasser heraus – wie Pfähle, wie Segelmasten gesunkener Schiffe. Die Fichtenbäume sind abgestorben, doch an den Stellen, an denen sie ins Wasser tauchen, ist die Farbe des Sees dunkler. Dort haben sich ihre Äste und Nadeln durch das eiskalte Wasser konserviert. Taucht man ein, soll man das Gefühl haben, sich in einem Unterwasserwald zu befinden, sagen uns zwei Kasachen. Nach einem Erdbeben im Jahr 1911 entstand durch die Felsverschiebungen eine Art natürlicher Staudamm. Seitdem sammelt sich dort das Regen– und Quellwasser aus den Bergen. Die Wassertemperatur steigt normalerweise nicht über acht Grad Celsius.
Wiedergeburt bei acht Grad Celsius
Wir gehen weiter, dorthin, wo die Quelle in den See fließt. Das Wasser schmeckt herrlich frisch. Im Hintergrund ragen die Bergspitzen empor. Ein grünblaugraues Farbenspiel im Sonnenlicht. Über das Bachbett gelangen wir zurück zum See. Als wir barfuß durch das Wasser laufen, spüren wir die eisige Kälte zum ersten Mal. An uns vorbei reiten junge Kasachen auf Pferden und rufen „Taxi“. Für ein paar Euro kann man mit ihnen zurück zum Aussichtspunkt reiten. Wir legen unsere Sachen ab und entscheiden uns nach einer kurzen Überlegung in den See zu springen. Ah! Die Muskeln ziehen sich zusammen, der Atem stockt, nach drei Sekunden sind wir wieder draußen. Neugeboren.
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Am Ufer sitzen Kolja und Georgi, vor ihnen liegen eine Flasche Wodka, ein paar Dosen Bier und eine Packung Zigaretten. Nur in Boxershorts prosten sie sich gegenseitig zu und laden auch uns auf ein Glas ein. „Auf die Gesundheit“, sagt Kolja, das sei schließlich das Wichtigste. Ob das nach der achten Flasche Wodka seit Sonnenaufgang – das sagen sie zumindest – immer noch hilft, ist eine andere Frage. Nach jedem weiteren Schluck springen die beiden erneut ins eiskalte Wasser. Kolja erzählt Trinkgeschichten aus Deutschland und sagt, wir seien die ersten Deutschen, die Wodka vertragen würden. Wir nehmen es als Lob und verabschieden uns, nachdem wir auch unser Proviant mit den beiden geteilt haben.
Zwei Kasachen kommen angeritten, Kolja kennt sie schon. Obwohl er leicht wankt und seine Augen immer wässriger werden, schwingt er sich gekonnt auf eines der Pferde und reitet im Putin-Stil, die Wodkaflasche unter den Arm geklemmt, Galopp durch den Bach zu seinem Zeltplatz. Wir laufen indes zum Parkplatz zurück, wo die Schaschlikspieße bereits auf uns warten. In einem alten Jeep mit fünf weiteren Fahrgästen werden wir zurück nach Saty gebracht.