Maria Gliem aus Frauenwaldau, dem heutigen Bukowice in Polen, hat einen Teil ihrer Kindheit als Vertriebene verbracht. Ihre Flucht führte sie nach Hessen, wo vor 70 Jahren die ersten Heimatvertriebenen ankamen. In ihrer heutigen Heimat trägt Gliem dazu bei, dass ihre Erinnerungen an die Zeit in Polen und die Flucht nicht in Vergessenheit geraten. Aus diesem Grund hat sie ihre Geschichte aufgeschrieben. Die DAZ veröffentlicht mit ihrer Erlaubnis Auszüge aus ihrer Niederschrift.
Unser Gepäck wurde wieder auf polnische Pferdewagen verladen, aber was war das für ein Kampf. Die Miliz warf die Koffer wieder runter, denn da konnten ja wertvolle Sachen verpackt sein. Die Kutscher taten das Gleiche und jeder versuchte, zu retten, was irgend ging. Wer diesen Kampf nicht mitgemacht hat, kann sich nicht vorstellen, was da los war. Wir wurden nach Liegnitz gebracht, wo schon tausende Menschen in einem großen Park zusammengepfercht waren. Wir waren das dritte Mal in Liegnitz, und wieder regnete es heftig. Neun Tage in dieser Stadt, und jedes mal regnete es. Neun Tage waren wir in diesem Park, und jeder saß in dem Regen auf seinem Gepäck. Die Kinder konnten ab und zu in der einzigen offenen Halle schlafen, aber nicht oft, denn alle hatten keinen Platz darin. Jeder hat versucht, ein paar Steine zu finden, damit man das Gepäck aus dem Wasser bekam. Es grenzt an ein Wunder, dass dort nicht noch mehr Menschen starben. Eine einzige Toilette ist dort gebaut worden, so ein Plumpsklo für 50 Personen. Wir durften nie allein dahin gehen, denn vier Kinder waren schon hinein gefallen und umgekommen.
Zu essen gab es einmal am Tag einen viertel Hering und zwei Pellkartoffeln. Das Wasser mussten wir einen Kilometer weit unter Milizbewachung holen. Neun Tage hatten wir große Angst. Alle Leute mit polnischen Namen sollten sich melden. Bei so einer großen Menschenmenge konnte aber nicht jeder kontrolliert werden und so hofften wir, Tante Agnes und Onkel Josef werden nicht erwischt. Wir hatten wieder mal Glück, der Herrgott hat unser beten erhört, denn das war ja das Einzige, was uns in dieser Situation blieb. Im Zug war wieder Gepäckkontrolle, aber wir hatten alles in alte Säcke gepackt und so kamen wir glimpflich davon. In der Not lernt man so einiges.
Endlich fuhr der Zug in Richtung Westen, und wir hofften, unseren Vater bald wieder zu sehen. Wir kamen in Görlitz über die Grenze nach Deutschland und wurden nach Löbau in ein riesiges Lager gebracht. Ehe wir einen Platz bekamen, wurden wir entlaust-Wir mussten alles ausziehen und duschen. Die Sachen wurden entlaust und desinfiziert. Wir hatten zwar keine Läuse, aber da musste jeder durch.
Danach bekamen wir vier Betten in einer riesigen Halle. Das war schon viel Platz für uns, aber da Onkel Josef schwer behindert war, bekam er ein Bett für sich allein. Hier gab es auch drei Mahlzeiten am Tag, fünf Gramm Butter, fünf Gramm Zucker und so weiter. Zum ersten Mal sprach alles deutsch und ich hatte große Schwierigkeiten mit der Satzstellung, denn ich sprach besser polnisch als deutsch. Das hat sich aber schnell geändert.
Onkel Josef`s Tochter, die in Klotsche bei Dresden wohnte, kam uns besuchen und gab bei der Heimleitung an, Onkel Josef und Tante Agnes könnten bei ihr wohnen. Für uns hatte sie leider keinen Platz, denn sie hatte nur eine kleine Wohnung. Wir kamen nach drei Wochen nach Arnsdorf in einen Vier-Familienblock. Wir waren wieder einmal angekommen.