Europa als Ziel einer kosmopolitischen Jugend: In einer jetzt erschienenen Studie stellen drei bekannte Osteuropa-Experten die neuen EU-Nachbarn Russland, Belarus, die Ukraine und die Republik Moldau vor

Feuerwerk, Ansprachen am Rande des Pathos und ehrliche Freude – wer im vergangenen Mai die Feierlichkeiten zum Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten zur Europäischen Union betrachtete, konnte tatsächlich den Eindruck gewinnen, die jahrzehntelange Trennung Europas sei nun besiegelt. Erst langsam wird klar: die Grenze hat sich nicht aufgelöst, sondern lediglich verschoben. In nie gekannter Schärfe taucht sie im Osten des Alten Kontinents wieder auf und verläuft nun entlang der Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. Die EU steht damit vor einer völlig neuen Herausforderung: zum ersten Mal seit der Wende ist sie in der Pflicht, sich nicht mehr nur auf die Rolle eines Beobachters zu beschränken, sondern aktiv an der Gestaltung Osteuropas mitzuwirken. Doch welche europäische Perspektive haben die vier neuen Nachbarn der EU – Russland, Belarus, die Ukraine und Moldau – eigentlich? Und welchen Einflüssen von innen und außen sehen sich die Führer der noch jungen Nachfolgestaaten der UdSSR ausgesetzt?

Zeit für ein Werk, das sich intensiv mit den neuen europäischen Nachbarn der EU beschäftigt und damit eine Grundlage für die Beantwortung dieser Fragen schafft: mit „Die offene Flanke der Europäischen Union – Russische Föderation, Belarus, Ukraine und Moldau“ legt das Autoren-Trio Ernst Piehl, Peter W. Schulze und Heinz Timmermann ein Buch vor, das diesem Anspruch gerecht werden kann.

Piehl, Schulze und Timmermann schöpfen dabei aus ihrer umfangreichen Erfahrung mit dem osteuropäischen Raum und dem europäischen Einigungsprozess. „Die offene Flanke“ hat dadurch zweifellos seinen Handbuchcharakter erhalten, aber es will mehr als das: Das weitverbreitete Baukastendenken in Europa zum Einsturz bringen. Denn noch immer – das haben die Ereignisse rund um die „orangene Revolution“ in der Ukraine gezeigt – dominieren in Brüssel unfertige Vorstellungen und Fehleinschätzungen des Raumes jenseits der neuen Ostgrenze.

Besonders ausführlich und brandaktuell zeigt dies das Sonderkapitel zur „orangenen Revolution“, die quasi über Nacht die demokratische Ukraine aus ihrem Dornröschenschlaf erweckte. Kenntnisreich stellt Kapitelautor Ernst Piehl die Geschehnisse in den größeren Zusammenhang der Entwicklung einer nationalen Identität in der Ukraine und ihrer komplexen ökonomischen Situation, besonders der ökonomischen Abhängigkeit von Russland. Neben den wichtigsten Persönlichkeiten porträtiert er eindrücklich die gesellschaftlichen Kräfte, die zum Gelingen der friedlichen Machtübernahme durch Viktor Juschtschenko im größten europäischen Flächenstaat beigetragen haben. Er weist nach, dass diese Revolution ihren Ursprung eben nicht in regionalen Unterschieden hat – darin unterscheidet er sich erfrischend von oberflächlichen Interpretationen eines Samuel Huntington. Stattdessen sieht er neue soziokulturelle Gruppen, vor allem eine zunehmend kosmopolitische Jugend, als Motor dieser Erneuerung, die Europa als Ziel ins Auge gefasst hat. Die Aktualität der Analyse ist beeindruckend, wird ihr jedoch manchmal zum Verhängnis. Im Fall der Rolle Deutschlands zum Beispiel: gerade vor dem Hintergrund der umstrittenen Diplomatie von Bundeskanzler Gerhard Schröder wäre etwas mehr Wertung und etwas weniger Beschreibung wünschenswert gewesen.

Ähnlich beeindruckend zeigt sich das Kapitel von Peter Schulze über die russische Föderation. In einem Rundumschlag stellt er die Entwicklung der russischen Politik seit der Wende dar, erklärt den Niedergang des Systems Jelzins und den Aufstieg von Wladimir Putin zum nahezu autoritären Herrscher Russlands. Schulze sieht dabei die Machtfülle Putins weniger als das Ergebnis einer umfassenden Kontrolle der Medien, sondern vielmehr als Folge der politischen Passivität einer Mittelklasse, die wirtschaftliche und politische Stabilität der demokratischen Modernisierung des Landes vorzieht. Mit seinem Plädoyer für eine realistischere Sicht Russlands wird Schulze sich unter Linken keine Freunde machen, seine Analyse bleibt jedoch richtungsweisend. Umso mehr, als er es versteht, auch die Gefahren des Systems Putin aufzuzeigen: der Mangel an gesellschaftlichen Visionen, der die Kräfte der Modernisierung lähmt und so neue Verkrustungen schafft, die sich als fatal erweisen könnten, sollte die wirtschaftliche Dynamik Russlands nachlassen.

Jenseits des ukrainischen Modells der Revolution von der Straße und des russischen Modells der Modernisierung von oben steht die Stagnation und Isolation von Belarus. Heinz Timmermanns Analyse bietet wenig Hoffnung für ein Land, das durch seinen autoritären Führer Lukaschenko immer weiter in die Isolation treibt. Timmermann beschreibt die wechselhafte Annährung an Russland und die durch Lukaschenkos Fehleinschätzungen zunehmenden Irritationen zwischen den beiden Staaten. Der EU-Strategie eines doppelten Dialogs mit Belarus – also sowohl mit dem Regime als auch mit der Opposition – hält der Autor für einen Erfolg versprechenden Weg, auch wenn er in seiner Prognose vorerst nicht zu Optimismus neigt.

Das letzte Kapitel des Buches ist der Republik Moldau gewidmet. Es ist ein Verdienst der Autoren, dass sie dieses vergessene Land Europas in ihre Analyse einbeziehen. Auch hier besteht ihrer Einschätzungen zufolge wenig Grund zur Hoffnung. Die ökonomischen Daten und der Konflikt um die Provinz Transnistrien lassen die Chancen Moldaus auf eine Perspektive innerhalb Europas düster erscheinen.

Insgesamt bietet „Die offene Flanke der Europäischen Union“ einen detailreichen Überblick über die neuen Nachbarn der EU. Die Autoren stellen die Außenpolitik der vier besprochenen Länder in den Zusammenhang ihrer wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und innenpolitischen Entwicklung. Ihr Bemühen, Sachverhalte in ihrer ganzen Komplexität darzustellen, geht manchmal auf Kosten der Anschaulichkeit. Dennoch sind ihre Analysen überzeugend und können als Grundlage für eine ausgewogene Politik der Union in Osteuropa hin zu einer echten Partnerschaft dienen. Noch dazu gibt es zurzeit wohl wenige Werke, die sich in punkto Aktualität mit dieser Länderstudie messen können. Einziger Wermutstropfen: Die Vielzahl an Grammatik-, Sprach- und Orthografieverstößen, die bei einem anspruchsvollen Werk wie diesem die Grenze des Tolerierbaren schlicht überschreiten.

Ernst Piehl, Peter W. Schulze, Heinz Timmermann. „Die offene Flanke der Europäischen Union – Russische Föderation, Belarus, Ukraine und Moldau“. Berlin: Wissenschafts-Verlag (2005). 557 Seiten, kartoniert, 59 EUR

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