An die Kindheit und Jugend, die sie in Kasachstan verbrachte, hat Ida Häusser die wärmsten Erinnerungen. In ihren Werken kehrt sie mitunter ganz bewusst dorthin zurück – taucht ein in die Vergangenheit, stellt sich Fragen, denkt über die Geschichte ihrer Familie nach.
„Schreiben ist ein Wunder und ein Unglück zugleich“, behauptet Judith Kuckart, deutsche Autorin und Regisseurin. Stimmen Sie damit überein? Und warum?
Oh ja. Manchmal hasse ich es, weil mir kein einziger Satz gefällt. Alles ist irgendwie abgedroschen, nichtssagend, langweilig. Manchmal gelingt ein Satz, dann könnte ich darin baden und jede Silbe genießen. Aber bis dahin ist es ein langer, langer Weg. Und der ist jedes Mal neu.
Warum fiel Ihre Entscheidung gerade auf die schriftstellerischen Tätigkeiten?
Zum literarischen Schreiben kam ich sehr spät, erst mit knapp 50 Jahren. Irgendetwas gärte in mir, wollte raus. Aber nicht einfach im Gespräch, zufällig am Kaffeetisch, sondern durchdacht. Das Schreiben setzt voraus, dass man seine Gedanken erst sortiert, bevor man zu erzählen beginnt.
In dem Buch „Meins!“ teilen Sie ihre Erinnerungen an ihre Kindheit, die Sie in Nordkasachstan verbracht haben. Was hat Sie dazu veranlasst, dieses Buch zu schreiben?
Die Erzählungen in „Meins!“ sind fast ausschließlich im VHS-Kurs „Autobiografisches Schreiben“ entstanden, als Hausaufgabe auf gestellte Fragen wie „Wenn ich ein Tier wäre, dann wäre ich…“ oder „Wie ich … lernte“. So entstanden „Manjka“ oder „Wie ich nähen lernte“. Die Erzählung „Meine drei Dinge“ entstand gleich am ersten Tag des Kurses, wir sollten in fünf Minuten anhand von drei Gegenständen beschreiben, was uns ausmacht. Natürlich habe ich auch noch lange danach an dem Text gefeilt, aber diese erste Aufgabe führte mich schon nach Kasachstan, denn da war mein erstes „ICH“ erwacht.
Welche Werte wurden Ihnen in Ihrer Kindheit vermittelt? Unterscheiden diese sich von den Werten der modernen Gesellschaft?
Verantwortung übernehmen, sich engagieren und sich eine eigene Meinung bilden waren wahrscheinlich die wichtigsten Eigenschaften. Und es ist auch heute so. Wer es weiter bringen möchte, im Beruf, im Sport, in der Kunst, der muss sich hineinknien.
Welche Qualitäten würden Sie gerne bei der heutigen Jugend sehen?
Ich sehe das alles auch bei der heutigen Jugend. Nur sind die jungen Leute durch die guten Lebensumstände nicht mehr gezwungen, es täglich zu beweisen, weil ja alles vorhanden ist.
Wo liegt Ihrer Meinung nach der Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern? Ist es schwieriger, Kinderbücher zu schreiben?
Für Kinder zu schreiben ist auf andere Weise schwierig. Ein langweiliger Satz reicht, und ihr Interesse ist dahin.
Kinder lesen heutzutage keine Bücher mehr. Was kann man dagegen tun?
Von klein auf vorlesen, jeden Tag, mehrmals am Tag. Gute Bücher kaufen, mit tollen Illustrationen, und diese gemeinsam betrachten, mit dem Kind auf dem Schoß. Und natürlich selber lesen. Da fällt mir ein Spruch von Oswald Bumke ein: „Erziehen heißt Vorleben. Alles andere ist höchstens Dressur.“
Wenn wir alle aus unseren eigenen Fehlern lernen, warum haben Menschen immer noch Angst, welche zu machen?
Weil Fehler weh tun. Und wir alle so gemacht sind, dass wir dem Leid aus dem Weg gehen.
Die Hauptbotschaft Ihrer Werke ist die Güte und Liebe zu den Menschen, zur Natur und zur Welt. Glauben Sie, dass diese wirklich dazu beitragen werden, die Welt zu verändern?
Verändern vielleicht nicht, zumindest nicht direkt. Aber es macht das Leben für einen selber sehr viel angenehmer, und wenn es jeder anstrebt, dann auch für andere.
Gibt es die ewige Liebe?
Ich hoffe, Ja.
Was ist das Verrückteste, das Sie jemals in Ihrem Leben getan haben?
Weiß ich auf die Schnelle nicht. Vielleicht diese Episode: Mein Mann und ich reisten 2012 auf den Spuren der Vorfahren mit dem Schiff bis zum Donaudelta und wollten von Galatz in Rumänien weiter nach Ismail und Odessa. Was wir nicht wussten: Über die (ganz dicht nebeneinander liegenden) Grenzen Rumänien – Moldawien – Ukraine verkehrten keine öffentlichen Busse, und zu Fuß durfte man nach Moldawien nicht „einreisen“. Wir fragten herum und fanden einen rumänischen Taxifahrer, der versprach, uns hinüberzubringen.
Aber etwa 100 Meter vor der Grenze setzte er uns aus. Er hatte gar keine Genehmigung zum Passieren der Grenze mit Passagieren. Er sagte aber etwas zu einem dort herumstehenden Polizisten, dieser nickte und winkte uns. Der Taxifahrer fuhr davon.
Wir standen mit unseren Koffern an einem Strommast an einer staubigen Straße, ganz alleine, 3.000 Kilometer von daheim, ohne ein schützendes Autodach über uns. Immer wieder fuhren Autos vorbei, die Fahrer schauten uns mit großen Augen an. Plötzlich hielt der Polizist ein Auto mit bulgarischem Kennzeichen an, sagte dem Fahrer etwas und zeigte auf uns. Dieser nickte, machte den Kofferraum auf und winkte uns zu sich. Wir verstauten unsere Koffer zwischen Melonen, Paprikasäcken und Zwiebelzöpfen, und stiegen hinten ein.
Dort saßen wir eingequetscht zwischen weiteren Wassermelonen und versuchten, uns mit dem Fahrer und seiner Frau auf Englisch zu unterhalten. Bis er nach einer halben Stunde fragte, warum wir nach Odessa wollten, und wir ihm die Geschichte der Spurensuche erzählten.
Es stellte sich heraus, dass Kostja und seine Frau Moldauer waren und wunderbar Russisch sprachen. Wir verbrachten zwei lustige Stunden an der Grenze, wartend im Auto. Den moldauischen Grenzpolizisten sagte Kostja, dass wir seine Verwandten seien, die aus Deutschland auf Besuch kommen. Diese glaubten ihm sicher nicht, sie hatten uns ja vorhin an dem Strommast gesehen. Aber Kostja blieb dabei und sagte uns: „Die warten, bis wir ihnen Geld geben. Aber sie kriegen keins!“ So war es auch. Irgendwann mal wurde es den Polizisten zu blöd, und sie ließen uns durch. Etwa 700 Meter weiter an der ukrainischen Grenze ließ Kostja uns aussteigen und sagte, dass man hier zu Fuß rüber darf. Diesmal stiegen wir lachend aus dem Auto.
Was ist Ihrer Meinung nach das größte Problem der Menschheit?
Die Selbstbezogenheit.