Im Bezirk Taiynscha in der Region Nordkasachstan fanden Dreharbeiten zu Dokumentar-Kurzfilmen statt. Die Filme sind der Erforschung und Bewahrung des historischen Gedächtnisses gewidmet.
Die Hauptfiguren der Filme sind gewöhnliche Bewohner von zwei Dörfern. Sie versuchen, die Sprache, die jahrhundertealten Traditionen, Bräuche und die Folklore ihrer Vorfahren zu bewahren. Das Filmteam ist überzeugt, dass die Dokumentarfilme den Zuschauern einen anderen Blick auf die Welt ermöglichen werden. Es geht um einfache Wahrheiten, um die Liebe zur Heimat, um universelle Werte, um die Lebenskraft und die geistige Schönheit der dort lebenden Menschen. Die Filme appellieren an das kollektive historische Gedächtnis, thematisieren das Erbe vergangener Jahrhunderte und beantworten die tiefgründige Frage: Warum sich an die Vergangenheit erinnern?
Die Filme wurden mit Unterstützung vom Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland (BKDR) und der Deutschen Allgemeinen Zeitung (DAZ) gedreht.
Eine Zeitkapsel
Im Dorf Kellerowka im Bezirk Taiynscha der Region Nordkasachstan leben heute mehr als 260 Deutsche. In der Vergangenheit waren es natürlich viel mehr. Die offizielle Geschichte von Kellerowka geht auf das Jahr 1905 zurück. Einige Quellen erwähnen jedoch, dass die ersten deutschen Siedler in den Jahren 1898 und 1900 in dieser Steppenlandschaft auftauchten. Sie stammten aus dem Wolgagebiet und von der Krim. Mit der Eisenbahn kamen sie nach Petropawlowsk, dann mit Ochsenkarren über die Landstraße. Die Stolypin-Agrarreform des zaristischen Russlands versprach den Siedlern in den unbewohnten Gebieten große Grundstücke – die Menschen reisten dafür dorthin.
Kellerowka erhielt seine Bezeichnung nach dem Nachnamen eines der Gründer – Keller, der lange Zeit der Dorfvorsteher war. In den Anfängen lebten die deutschen Siedler in Unterständen, die fast menschenhoch eingegraben waren. Über dem Boden, rund um die einfache Unterkunft, errichteten sie spezielle, etwa einen halben Meter hohe Mauern aus Grassoden oder Lehm. Ein solch komplizierter Kerker schützte vor bitterem Frost und starken Steppenwinden. Im Winter gingen die Schilfdächer der Unterstände so weit unter den Schnee, dass man die niedrigen Ofenrohre an der Oberfläche kaum finden konnte.
„Die Deutschen haben eine solche Maschine mitgebracht“, sagt Anatoli Gabtschenko und zeigt dem Kameramann stolz ein vorrevolutionäres Holzgerät, mit dem er mit eigenen Händen Wurst herstellen kann.
Dienst für Zar und Vaterland
Anatoli Gabtschenko ist ein alter Bewohner von Kellerowka. Einzigartige alte Geräte gehören für ihn zum täglichen Leben. Das Haus des Sammlers ist von der Atmosphäre der Antike umhüllt – es ist eine Art ethnografische Ecke des Dorfes. Überall, auch im Hof unter freiem Himmel, finden sich jahrhundertealte Haushaltsgegenstände: Spinnräder, alte Bügeleisen, Samoware, Pflüge und viele andere Dinge, die aus dem modernen Leben für immer verschwunden sind. Vor dem Tor befinden sich neben anderen ungewöhnlichen Dingen die mächtigen steinernen Mühlsteine einer vertikalen Walzenmühle. Vor etwa siebzig Jahren dienten sie als Presse zur Herstellung von Öl aus Sonnenblumen- und Leinsamen.
Im Herbst, nach Beendigung der Feldarbeit, wurden in Kellerowka Rekruten ausgewählt, die dem Zaren und dem Vaterland dienen sollten. Die Dorfversammlung zu diesem Anlass fand auf einer malerischen Blumenwiese in der Nähe statt. Dort wurden übrigens viele wichtige Fragen und Probleme von den Bewohnern von Kellerowka gelöst. Bei der Ansiedlung an einem neuen Ort bewahrten die Deutschen sorgfältig ihre Traditionen, Bräuche und Lebensweise.
Anna Fiks ist eine der Heldinnen des Films über Kellerowka und Bewahrerin der deutschen Kultur im Dorf. Die Vorfahren der Frau sind Schwaben. Anna spricht den schwäbischen Dialekt perfekt, kocht nationale deutsche und schwäbische Gerichte. Während der Dreharbeiten zeigte und erzählte die Frau, wie man eine Nudelsuppe kocht und sang ein altes Lied.
Jagd auf Priester in Kellerowka
In den verhängnisvollen 1930er Jahren wurde die katholische Gemeinde von Kellerowka von den sowjetischen Behörden geschlossen. Alteingesessene erinnern sich jedoch daran, wie die Dorfbewohner trotz der Verbote heimlich Gottesdienste abhielten. Priester, die nach Kellerowka kamen, wurden verhaftet und für viele Jahre „wegen religiöser Propaganda“ ins Gefängnis gesteckt. Heute befindet sich im Zentrum von Kellerowka die katholische Kirche des Heiligen Franz von Assisi.
„Es wurde in den 1980er Jahren auf Initiative unserer Deutschen gebaut. Das sind die Nachnamen Wilwert, Schnellbach, Fiks“, zählt Galina Schröder auf, eine aktive Anregerin und Organisatorin deutscher Feste im Dorf, eine Bewahrerin von Traditionen. „Trotz des Widerstands und verschiedener Hindernisse seitens der Behörden ergriffen sie die Initiative und errangen den Sieg.“
Lebendiges Spiegelbild der Geschichte
Interessante Tatsache: Bis 1936 wurde der Unterricht in der Pfarrschule von Kellerowka in deutscher Sprache erteilt. Dann, an der Schwelle zum Zweiten Weltkrieg, gab es scharfe Veränderungen in der Bildungspolitik der sowjetischen Parteiführung. Und nach der erzwungenen Massendeportation der Sowjetdeutschen wurde deren Muttersprache diskriminiert, ebenso wie die Menschen selbst.
…Dutzende von Einwohnern von Kellerowka versammelten sich zu einem abendlichen Lagerfeuer, das zu Ehren des alten deutschen Feiertages Johannistag veranstaltet wurde. Es gab originelle Gesänge zum Harmonium, und um das Feuer herum wurde getanzt. Wenn man sich in die Geschichte des Dorfes vertieft, wird einem klar, wie eng die verschiedenen Sprachen und Traditionen dort miteinander verwoben sind. Kellerowka ist ein lebendiges Spiegelbild der Ereignisse des letzten Jahrhunderts und der geografischen Eigenheiten. Die Verschmelzung von Kulturen und Weltanschauungen vereinte die Menschen im Dorf und wurde zur Grundlage der lokalen Mentalität.
Repressionen in den 1930er Jahren
Laut Tamara Wolkowa, Kandidatin der Geschichtswissenschaften und emeritierte Professorin an der Kasachisch-Deutschen Universität, wurden viele Dörfer im Bezirk Taiynscha von Vertriebenen und deportierten Vertretern „unzuverlässiger Völker“ gegründet.
„1936 kamen Staffeln von den westlichen Grenzen der Sowjetunion auf der Station Taiynscha an“, so Tamara Wolkowa. „Darunter befanden sich ethnische Polen und Deutsche, die die sowjetische Regierung lieber von den Grenzen fernhielt, da sie sie der Spionage und Sabotage verdächtigte.“
In einem kurzen Dokumentarfilm über das Dorf Letowotschnoje agiert Tamara Wolkowa als Historikerin und Beobachterin der 1930er Jahre, die für ihre Massenunterdrückung „unzuverlässiger“ Völker in Erinnerung geblieben sind. Sie spricht dabei über ein kulturelles Trauma, historisches Gedächtnis und Identität.
Eine Lehre für die künftigen Generationen
Letowotschnoje wurde, wie eine Reihe anderer Dörfer im Bezirk Taiynscha, von Polen und Deutschen im Exil gegründet. Neun Kilometer davon entfernt, in der Nähe des Dorfes Osernoje, liegt der Hügel Wolynskaja. Von ihm aus blickt ein 12 Meter hohes Kreuz über den gesamten Steppenbezirk. Dieses Denkmal wurde erst vor relativ kurzer Zeit – 1998 – errichtet und ist den Opfern der sowjetischen Repressionen gewidmet. Nadeschda Morewa, Lehrerin für russische Sprache und Literatur am Gymnasium in Letowotschnoje und Lehrerin für Deutsch- und andere Kurse der „Wiedergeburt“-Gesellschaft in Nordkasachstan, hält auf dem Hügel regelmäßig Geschichtsstunden ab.
„Die Tragödien der Vergangenheit sollten eine Lehre für alle künftigen Generationen sein“, sagte Nadeschda. „Das vergangene Unglück sollte sich nicht wiederholen.“
Ein zweischneidiges Schwert
Nach den Plänen des Filmteams soll der Film nicht nur das Leben und das gesellschaftliche Leben des heutigen Letowotschnoje zeigen, das der Kameramann mit der Kamera eingefangen hat, sondern auch an die Vergangenheit erinnern: Massenrepressionen, falsche Denunziationen und Anschuldigungen, Zwangskollektivierung, Überwachungsbefehle und andere unangenehme Momente der Vergangenheit.
Nach Ansicht der Historikerin Tamara Wolkowa sind die sowjetischen Repressionen ein zweischneidiges Schwert: Einerseits brachte die totalitäre Politik des Sowjetregimes viel Leid und Tränen über die Bevölkerung des Landes, andererseits waren die Unterdrückten in einer bestimmten Enklave vereint, die eine Verschmelzung verschiedener Sprachen, Kulturen, Religionen und Nationalitäten darstellte. Das Unglück vereinte und führte die Menschen zusammen – dies trug zur Entwicklung der Toleranz in der Gesellschaft bei.
Autorin: Marina Angaldt.
Übersetzung: Annabel Rosin.