Ich dachte, ich wäre meinem Ideal, fast immer moralisch einwandfrei zu handeln, schon ziemlich nahe gekommen und hätte mir das Recht erarbeitet, mich als Moralapostelin aufzuspielen. Da ich es nicht lassen kann, sichtbar oder heimlich den Zeigefinger zu heben oder damit in die tiefen Wunden der moralischen Verfehlungen meiner Mitmenschen zu bohren, lese ich allerhand Texte zur Ethik und Moral, um mich mit stichhaltigen Argumenten zu wappnen. Und das ist gar nicht so einfach, die Sache mit der Moral gar nicht so eindeutig.
Greifbarer ist es wohl, sich als Sittenpolizistin beim Finanzamt, der Gebühreneinzugszentrale oder als Wirtschaftprüferin zu verdingen, da hat man erstens konkrete Paragrafen, Ziffern, falsche oder fehlende Belege, die man den Schmalspurschurken um die Ohren hauen kann. Und zweitens die Legitimation, Verfehlungen zu erschnüffeln und das auch zu tadeln oder ahnden, weil es schlicht der Job ist.
Ich bin nicht stolz auf meine Schlaumeierei, aber da ich diese Eigenschaft nun einmal habe, immer schon hatte und nicht ablegen kann, will ich wenigstens gewissenhaft und fundiert damit umgehen. Nach jahrzehntelanger Feldforschung inklusive Selbstbeobachtung ziehe ich mich jetzt ein kleines Weilchen zu Literaturrecherchen zurück. Danach mache ich einige Selbstversuche, ob es möglich ist, von morgens bis abends und von Kopf bis Fuß moralisch zu leben und wo man an seine Grenzen stößt; seien sie persönlicher und psychologischer Natur, neurologischer und medizinischer, kultureller und soziologischer oder seien es intellektuelle und philosophische Grenzen in Form von Zweifelsfällen, Dilemmata und Paradoxien, zu denen allenfalls Salomon oder Konfuzius eine Lösung gefunden hätten.
Nach nur wenigen Zeilen Literaturarbeit muss ich feststellen, die Grenzen tun sich schneller auf, als ich dachte und sind zudem höchst banal und scheinen mir trotzdem schier unüberwindbar. Ich dachte, ich hätte mir mit meiner Verhaltensmaxime, immer überall die Wahrheit zu sprechen, schon den Ehrendoktor verdient. Jetzt stellt mein kleines Büchlein über die Loyalität in Frage, ob es immer die richtige Entscheidung ist, die Wahrheit zu sagen. Denn man soll ja auch andere Menschen nicht in die Bredouille bringen oder verletzen. Leider ist die Wahrheit ein scharfes Schwert, mit dem man schnell mal jemandem den Kopp abhauen kann, wenn man damit einfach so herumfuchtelt.
Aber auch wenn man von solch dramatischen Wendungen absieht, muss ich noch in einigen Punkten nachsitzen. Zum Beispiel soll man sich immer kategorisch an die Verkehresregeln halten und nie bei Rot über die Ampel gehen, und zwar nicht aus Sicht von Wachtmeistern, Spießern oder sonstigen Regeltreuen, sondern dafür gibt es in der Trickkiste der Moralphilosophie triftige Gründe, die ich jetzt hier aus Platzgründen nicht haarklein darlegen kann. Die letzten 53 Versuche, mit dem Fahrrand NICHT über die rote Ampel zu brettern, sind gescheitert. Auch bei meiner zweiten Hausaufgabe, im Zug NICHT den Platz neben mir mit meinem Kram vollzupacken, beläuft sich der Trainingserfolg auf: Null. Bevor ich weiter neunmalkluge Kommentare von mir gebe, packe ich mich jetzt erst mal an die eigene Nase.