Wenn Stefan Zippel mit russlanddeutschen Aussiedlern über AIDS sprechen möchte, muss er seine Worte sehr vorsichtig wählen. Als Leiter der Psychosozialen Beratungsstelle in der Hautklinik an der Ludwig-Maximilian-Universität von München, in der Infizierte eine HIV-Medikamententherapie und psychosoziale Betreuung erhalten, hat er auch mit Spätaussiedlern aus Russland und der Ukraine zu tun. Und so hat er erfahren, mit welchen Vorurteilen AIDS in diesen Ländern befrachtet ist. Wie ein roter Faden zieht sich durch die Therapiegespräche, dass die Erkrankung mit Unmoral gleichgesetzt wird.
Wenn die Patienten nach einem AIDS-Test die Diagnose „positiv“ bekommen haben, sind sie zunächst schockiert und versteinert, berichtete Zippel in einem Gespräch mit dem Online-Nachrichtendienst Telepolis. Gleichzeitig sei es für die Betroffenen enorm wichtig, nicht als homosexuell oder drogensüchtig eingeschätzt zu werden. Sie wollen als anständige Mitbürger eingestuft werden, die durch einen vermeintlich dummen Zufall mit HIV in Kontakt gekommen. „Die Krankheit wird völlig ausgegrenzt.“
Häufig trifft die Erkrankung die ganze Familie: Ist eine Person positiv, ist die Gefährdung der übrigen Familienmitglieder gross. Nach Zippels Beobachtung betreuen sich Aussiedler untereinander sehr fürsorglich, doch das Thema AIDS wird – wenn überhaupt – nur im engsten Kreis der Betroffenen angesprochen.
Die Spätaussiedler bringen mit, was sie in ihrer Heimat erfahren haben: Wer HIV-infiziert ist, wird diskriminiert. Schlimmer noch: Auch die Familie gerät in Misskredit. Da kaum jemand über mögliche Infektionswege informiert ist, fürchten viele, sich bereits beim einfachen Händedruck anstecken zu können. Mit Unterstützung internationaler Organisationen stehen in Russland und der Ukraine zwar Medikamente zur Verfügung, doch sie erreichen die Betroffenen nur selten. So kommt es, dass nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation seit 2004 zum Beispiel in der Ukraine gerade 170 Patienten eine Therapie erhalten – bei offiziell 69.000 Erkrankten.
Da sie die Verhältnisse in Osteuropa nicht beeinflussen können, versuchen Zippel und sein Beratungsteam wenigstens bei den in der Bundesrepublik lebenden Russlanddeutschen gegen das Schweigen anzugehen. Künftig sollen auch Versuche unternommen werden, durch Aufklärungsunterricht in Aussiedlerunterkünften sowie im Deutschunterricht Informationen über AIDS zu verbreiten. (ID)