Dmitrij Tschirow ist 84 Jahre alt und lebt in Karaganda. Am 8. September 1941, während des Zweiten Weltkrieges, wurde er gefangengenommen und geriet nach Österreich. In seinen Erinnerungen „Unter den Verschollenen”, die in Österreich im Jahre 2003 herausgegeben wurden, beschreibt er seine Erfahrungen in einem Arbeitskommando. Tschirow arbeitete bis Kriegsende in Österreich in dem kleinen Ort Gedersdorf bei den beiden Bauern Johann Zinner und Franz Gerstenmayer. Vor kurzem besuchten die Österreicher Christine und Walter Eigner zusammen mit ihrer Freundin und Dolmetscherin Marta Pichler Karaganda. Christine Eigner ist die Enkelin von Franz Gerstenmayer. Mit den Gästen sprach unsere Karagandaer Korrespondentin Jelena Seifert.

Frau und Herr Eigner, Sie sind aus Österreich nach Karaganda gekommen, um Dmitrij Tschirow, den ehemaligen Zwangsarbeiter ihres Großvaters Franz Gerstenmayer, zu besuchen. Wie ist Ihr erster Eindruck von Kasachstan?

Unsere Erwartungen wurden bei weitem übertroffen. Natürlich sind wir mit einem ganz besonderen Interesse hierher gefahren, es ist schon unser zweiter Besuch. Aus Erzählungen und Briefen Dmitrij Tschirows hatten wir uns ein vages Bild von Karaganda gemacht, doch die Wirklichkeit übertraf unsere Erwartungen.

Christine, was ist anders, wenn man nach zehn Jahren wieder hierher kommt?

Obwohl soviel Zeit vergangen ist und Dmitrij und seine Ehefrau einige schwere Krankheiten überstanden haben, sind sie mir sehr lebensfroh und glücklich vorgekommen. Man merkt deutlich, dass die schlimmen Zeiten kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion endlich vorbei und die finanziellen Sorgen nicht mehr so groß sind. Die Begegnung war überaus herzlich, wir wurden auch von allen Freunden innig aufgenommen, überall bestens bewirtet und haben uns von Anfang an sehr wohl gefühlt. Die zehn Tage sind so schnell vergangen. Wir haben viel über das Land und die Leute erfahren, über die Geschichte, die Kultur, den Wandel… Ein interessanter Aufenthalt, eine bleibende Erinnerung auf ewig. Das Schönste an dieser wunderbaren Reise war die Begegnung mit unserem Gastgeber Dmitrij Tschirow, seiner Familie und seinen Freunden. Sie gewährten uns Einblick in ihren Alltag, ihre Gedanken und öffneten uns ihre Herzen in vielen Gesprächen und bei gemeinsamen Unternehmungen. Ich habe viel gelernt – über die Stadt Karaganda, das Leben und die Geschichte ihrer Einwohner.

Erinnert sich Ihr Vater, Christine, an Dmitrij Tschirow? Was hat sich ihm aus der Zeit nach Kriegsende eingeprägt?

Mein Vater kann sich nicht sehr an Dimitrij erinnern, da er ja zu Kriegsende erst vier Jahre alt war. Aber wir haben Dmitrij neue Fotos der Häuser Gerstenmayer und Zinner in Gedersdorf mitgebracht. Meine Eltern leben noch im Haus meines Großvaters. Gedersdorf ist auch viel größer geworden, da viele hierher gezogen sind. Diese „Zuwanderer” sind keine Bauern, so dass sich auch das Erscheinungsbild sehr geändert hat. Heute gibt es nur wenige große Landwirte und kleinere Nebenerwerbs-Landwirtschaften. Ein Großteil der Bewohner geht einem anderen Beruf nach.

Dimitrij Tschirow war schon einmal 1994 mit seiner Ehefrau zu Besuch in Österreich. Erzählen Sie bitte von Ihrer ersten Begegnung mit dem Kriegsveteranen aus Kasachstan.
Ich habe Dimitrij und Valentina damals mit meinem Vater vom Flughafen abgeholt. Während der Fahrt nach Gedersdorf hat Dimitrij die Sauberkeit und die „Elektrizität”,  man sieht bei uns sehr viele Strommasten und Leitungen, bestaunt. Als wir in Gedersdorf waren, hat Dmitrij jedes Haus noch dem damaligen Eigentümer zuordnen können, so gut hat er sich erinnert. Außerdem war sein Deutsch ausgezeichnet. Sie haben uns viel mitgebracht, Obst, Marmelade usw., obwohl sie selber sehr arm waren. Ich selbst habe Dimitrij und Valentina auch einmal zu uns nach Stein, wenige Kilometer von Gedersdorf entfernt, eingeladen. Danach war ich auch bei Dimitrijs Vortrag in der Volkshochschule in Krems, wo er von seinen Erinnerungen erzählte. Einen Tag halfen wir alle gemeinsam meinen Eltern bei der Weinlese. Den Rest der Woche haben meine Eltern mit den beiden verbracht; es war ein Journalist da und hat einen Zeitungsbericht verfasst. Außerdem war Dimitrij in der Gedenkstätte des Kriegsgefangenenlagers in Gneixendorf und hat andere Leute aus Gedersdorf getroffen, die er von damals kannte, und neue kennengelernt.

Marta Pichler, sie sind als Dolmetscherin für Ihre Freunde, die Eigners, mitgekommen und haben die Erinnerungen Dmitrij Tschirows auf Russisch gelesen. Erzählen Sie bitte von Ihren Eindrücken.

Als ich Anfang der 90er Jahre das erste Mal Dmitrijs Erinnerungen im russischen Original las, war ich von Anfang an gebannt von seinen Schilderungen. Wie konnte einem blutjungen Menschen ein solches Schicksal widerfahren! Ich war sehr froh, die Eindrücke jemandem mitteilen zu können, nämlich den Familien Gerstenmayer und Kaufmann, in deren Häusern Dmitrij damals als Kriegsgefangener arbeitete. Wir waren tief berührt; seine Beschreibung des bäuerlichen Alltags ist darüber hinaus für alle historisch Interessierten äußerst wertvoll.

Haben Sie irgendwelche Unterschiede nach dem Lesen des Buches auf Deutsch und auf Russisch bemerkt?

Als ich rund zehn Jahre später dem Buch in deutscher Übersetzung wieder begegnete, erinnerte ich mich ganz genau an das russische Original. Ich finde, dass die Übertragung in die deutsche Sprache durchhaus gelungen ist. Durch wissenschaftliche Erklärungen, eine Einleitung und Fußnoten hat das Werk noch an Eindringlichkeit und historischer Bedeutsamkeit gewonnen. Ein eindrucksvolles Dokument eines einzigartigen Schicksals und einer außergewöhnlichen Persönlichkeit.

Frau und Herr Eigner, Frau Pichler, vielen Dank für das Gespräch!

13/01/06

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