Über den merkwürdigen Hang der Sowjetunion, Flüsse und Uferpromenaden in Beton einzufassen, und die Popularität des Brutalismus.

Ich sitze am Ufer des Jessentai-Flusses und betrachte die rohen, mächtigen Betonfertigteile, durch die das Wasser hinabfließt. Der Fluss trennt nicht nur den Mikrorayon Koktem-1 von Koktem-2 und -3 ab, er trennt die gesamte Stadt Almaty auf einer Länge von 43 Kilometern in zwei Hälften. Und obwohl der Jessentai in einem dicken, graubraunen Bett fließt, ist die Flusspromenade heute ein überaus beliebter Treffpunkt für ausgedehnte Spaziergänge. Die Sowjetunion hatte einen merkwürdigen Hang dazu, Flüsse und Uferpromenaden großflächig in Beton einzufassen.

Es war die Zeit, in der man sich die Ressourcen der Natur untertan machen wollte, in der Ingenieurskunst den Lebensraum des Neuen Sozialistischen Menschen erschließen sollte. Bereits unter Stalin wollte man im ganz und gar wahnwitzigen Dawydow-Plan die Flüsse Ob und Jenissej aus Sibirien nach Zentralasien umleiten, um das Land dort landwirtschaftlich nutzbar zu machen. Ein Plan, der erst 1986 aufgegeben wurde. Tatsächlich geblieben ist ein sowjetischer Lebensraum aus Beton, eine brutale, sonderlich anmutende Welt von Kaliningrad bis Wladiwostok, von Murmansk bis Taschkent, in der der Homo Sovieticus sein Dasein fristete, bevor er sie 1991 zum ersten Mal verließ.

Jeder kennt die Bilder aus den sozialistischen Metropolen von endlosen, riesigen, toten Trabantenstädten, von der berühmten Platte der DDR. Aber es ist eine Legende, dass nur im Ostblock so großzügig mit Beton umgegangen wurde. Der Brutalismus, der großflächige und strukturelle Einsatz von rohem, unverputztem Beton, war eine weltumspannende Architekturbewegung zwischen den 1960er und 1980er Jahren. Le Corbusier war der Anführer dieser Bewegung und seine Architekturlehre forderte klare Formen wie Rechteck, Kreis, Quader und den Einsatz von Stahlbeton und Fertigteilen.

Das Wort Brutalismus stammt aus dem Französischen: Betón brut, roher Beton. Gerade in den letzten Tagen der untergehenden Sowjetunion entstanden fantastische Großprojekte, in denen der Beton scheinbar verrücktspielte. Gebäudeformen wurden sphärisch, kosmisch, fantastisch. Das Hotel Kasachstan mit seiner goldenen Krone, 26-stöckig und erdbebensicher, gleicht einer Weltraumrakete aus Beton. Der Zirkus Almaty erinnert an eine fliegende Untertasse.

Der Brutalismus verlor seine Popularität, wurde als hässlich und unmenschlich verschrien. Dies hat sich inzwischen verändert. Der Brutalismus ist der neue Popstar unter den Architekturstilen. Auf Instagram und Facebook erreichen Bilder brutaler Betonkathedralen enorme Beliebtheit und hohe Like-Zahlen in einer kleinen, aber wachsenden Community, die sich nicht für Schminkvideos, Selfies am Strand, ungewollte Produktwerbung und Pappbecher vom Coffeeshop interessiert. Beton ist wieder angesagt! Junge Architekten sehen in den Plattenbauten des Ostens ideale Voraussetzungen für neues, modernes und soziales Wohnen und Leben. Die oft extreme Formensprache des Brutalismus gilt noch immer als visionär.

Im Alataugebirge schmilzt der Schnee, enorme Wassermassen rauschen den Jessentai hinab. Am oberen Ende des Flusses befindet sich eine massive Sperranlage und Staubecken, die Katastrophen durch Schlamm– und Gerölllawinen aus dem Alataugebirge verhindern sollen. Ich blicke ins rauschende Wasser. Das Betonkleid des Jessentai ist keine herausragende Architektur. Es ist zweckmäßig, dazu gedacht, die Natur in Zaum zu halten und die Menschen vor den Naturgewalten zu beschützen.

Rechts und links des Flusses reihen sich alte Plattenbauten aneinander, auch sie geradlinig und zweckmäßig. Ein Leben in Beton war einmal der ideale Wohnraum, eine Utopie. Ich gestehe, auch ich habe etwas übrig für die Platte, für geradlinige, strukturierte Betonarchitektur, für den Brutalismus. Der Brutalist in mir wird sich auch weiterhin auf Entdeckungstour durch Zentralasien begeben, immer auf der Suche nach der Utopie des sowjetischen Lebensraumes in Beton.

Philipp Dippl

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