Jakob Fischer zählt heute zu den bekanntesten Vertretern der Deutschen aus Kasachstan. Der studierte Historiker und Pädagoge setzt sich bereits sein ganzes Leben lang für seine Landsleute ein und begründete unter anderem die Gesellschaft „Wiedergeburt“ mit. Mit Unterstützung des Deutschen Theaters Kasachstan veranstaltete er die ersten Festivals der deutschen Kultur in den Jahren 1988 und 1990. Nadeshda Runde hat mit Jakob Fischer über die wichtigsten Meilensteine seines Lebens, Erfolge und Rückschläge gesprochen.

Wer aus Ihrer näheren Umgebung hat einen prägenden Einfluss auf Sie gehabt – Eltern, Lehrer, Dorfgenossen?

Selbstverständlich waren meine Eltern, meine beiden Großmütter, Tanten und Onkeln sowie meine Schullehrer ein großer Einflussfaktor in meinem Leben.

Wofür haben Sie sich in der Kindheit interessiert?

In meiner Kindheit habe ich gerne gesungen. Mein Traum war, als Berufssänger und Schauspieler einmal auf der Bühne zu stehen. Nach der Schule wollte ich Rechtsanwalt werden und mich für die Wiederherstellung der Deutschen Wolgarepublik einsetzen.

Welche Stadt spielte eine wichtige Rolle in Ihrem Leben?

Jeder Ort, an dem ich gelebt habe, steht für eine bestimmte Lebensphase. Mein Geburtsort Tobolino, gegründet 1892 als wolgadeutsche Tochterkolonie Konstantinowka bei Taschkent, hat mich in hohem Maße geprägt. Jetzt heißt diese Siedlung Derbisek und gehört zum kasachischen Gebiet Turkestan, Rayon Saryagasch. In Temirtau bei Karaganda begann sich mein organisatorisches Talent zu entfalten: Ich organisierte Gastspielreisen und Kulturfestspiele des Deutschen Theaters Temirtau und vieler deutschen Gruppen für Musik, Gesang und Tanz sowie die beiden ersten Festivals der deutschen Kultur 1988 und 1990 in der ehemaligen UdSSR.

Wem verdanken Sie Ihre Professionalität?

Meine Professionalität habe ich niemandem im Besonderen zu verdanken, sie entfaltete sich mit den Jahren. Meine Lehrerausbildung an zwei guten Hochschulen in Kasachstan war für mich ein Glücksfall. Von 1972 bis 1977 studierte ich Geschichte und Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Schymkent in Südkasachstan. In den Jahren 1977 bis 1982 war ich Lehrer für Geschichte und Deutsch und stellvertretender Schuldirektor für Erziehungsarbeit im Dorf Leninskoje (heute Kos-Istek) im Gebiet Aktjubinsk, Westkasachstan. Von 1978 bis 1981 absolvierte ich ein Fernstudium an der Hochschule für Fremdsprachen in Alma-Ata, an der Abteilung Deutsch als Muttersprache und deutsche Literatur.

Welche Kollegen genießen Ihre größte Wertschätzung? Worin sehen Sie im Rückblick den positiven Einfluss auf Sie, falls dies so war?

Alle meine Kollegen genossen und genießen noch immer meine Wertschätzung: meine Kollegen in der Schule in Leninskoje (Kos-Jestek) im Gebiet Aktjubinsk, im Deutschen Theater in Temirtau und Alma-Ata, und dann später bei der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V. in Stuttgart.

Zunächst sind es die Misserfolge, die den Menschen vorwärtsbringen, danach der Erfolg. Sehen Sie sich als Glückskind?

Sicherlich genoss ich im Laufe meiner beruflichen Laufbahn viele Erfolgserlebnisse, und es gab auch immer wieder weniger erfreuliche Dinge – wie es eben bei den meisten Menschen ist.

Können Sie sich an einen Rückschlag erinnern, der Ihnen half, Sie selbst zu werden?

Im August 1980, gleich nach dem Ende der Olympischen Sommerspiele in Moskau, war ich Teilnehmer einer Delegation für die Wiederherstellung der Deutschen Wolgarepublik. Zu dieser Zeit war ich stellvertretender Schulleiter und Lehrer an der Mittelschule in Leninskoje, Gebiet Aktjubinsk, Kasachstan. Leonid Breschnew, der damalige Staats- und Parteichef der UdSSR, sowie weitere offizielle Vertreter der Partei und Regierung hatten es abgelehnt, die Vertreter der Delegation in Moskau zu empfangen. Die Teilnehmer der Delegation waren nach der Rückkehr in ihre Heimatorte Repressalien ausgesetzt. Ich habe dadurch teilweise meine Arbeit verloren. Mir wurde die Stelle des stellvertretenden Schulleiters gekündigt. Ich durfte nicht mehr das Fach Geschichte in der Oberstufe der Schule unterrichten. Meine Familie und ich wurden in der Öffentlichkeit schlecht gemacht.

Nennen Sie ein Credo, ein Lebensmotto, dank dem Sie ein so hohes Niveau auf Ihrem Fachgebiet erreicht haben?

Mein Credo lautet: Suchen – kämpfen – nicht aufgeben. Mein ganzes Leben habe ich für die Erhaltung der russlanddeutschen Kultur, für die Erhaltung der Erinnerung an das schwere Schicksal der Deutschen in Russland gekämpft.

Nach dem Studium waren Sie Lehrer für Geschichte, Deutsch und Chorgesang im Gebiet Aktjubinsk, Westkasachstan. Sie haben so einen guten Vergleich der Mentalitäten dort und in Deutschland. Wie unterscheiden sie sich voneinander?

Die Mentalität in Kasachstan war eine andere als im heutigen Deutschland. Der Lehrer war damals eine Respektperson. Die Schule war nicht nur ein Ort der Bildung, sondern auch ein Kulturzentrum. Das Lehrerkollektiv hatte einen ganz bestimmten Erziehungsauftrag. Unser alltägliches Leben war ständig mit den Schülern verbunden. Schon damals war es praktisch eine Ganztagsschule: Wir haben nach der Schule den „schwachen“ Schülern geholfen, die Hausaufgaben zu machen. Danach haben wir gemeinsam Sport gemacht, gesungen, getanzt und die Schüler in ihren Familien besucht. In Deutschland sollte, meiner Meinung nach, die Arbeit eines Lehrers einen höheren Stellenwert in der Gesellschaft einnehmen.

Sie sind bekannt als Projektleiter der Wanderausstellung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V. zum Thema: „Deutsche aus Russland. Geschichte und Gegenwart“. Dabei leiten Sie auch das begleitende Kulturprogramm. Mit welchem Ziel und nach welchen Kriterien sind die Ausstellung und das Kulturprogramm zusammengestellt?

Das Ziel der Wanderausstellung und des Kulturprogramms ist es, die Öffentlichkeit über die Geschichte, Gegenwart und Kultur der Deutschen aus Russland aufzuklären und somit bestehende Vorurteile abzubauen. Dazu werden geschichtliche Hintergründe beleuchtet, warum die Deutschen nach Russland ausgewandert sind und warum sie 250 Jahre später wieder nach Deutschland zurückkehrten.

Auf welche Vorurteile und welches Falschwissen treffen Sie, und können Sie beides mit Ihren Informationen zumindest zum Teil abbauen?

Folgende Vorurteile und Falschwissen werden beim Schulunterrichtsprojekt oft kontrovers diskutiert: „Sie sind keine Deutschen, da sie kaum noch Deutsch sprechen können! Sie wollen nur Russisch reden und kapseln sich ab!“ „Sie haben nichts in die Rentenkassen eingezahlt, erhalten aber eine Rente!“ „Der Staat schenkt ihnen Geld zum Bau oder Kauf eines Hauses!“ „Sie nehmen uns die Arbeitsplätze weg!“ „Sie neigen zur Gewalttätigkeit und sind häufig kriminell!“ „Sie wollen sich nicht in die deutsche Gesellschaft integrieren!“.
Im Rahmen des Themenblocks „Russlanddeutsche – Vorurteile und Tatsachen“ werden diese Aussagen in den Schulen behandelt, um Vorurteile abzubauen.

Sie gehen also mit der Ausstellung auch an Schulen, um dort ebenso die Geschichte und das Schicksal der Russlanddeutschen zu vermitteln. Wie groß ist dort das Vorwissen über das Leben der Russlanddeutschen, wie groß das Interesse daran?

Das Interesse und das Vorwissen über das Leben der Deutschen in Russland ist bei den Schülern sehr gering, deshalb ist dieser Bildungsauftrag sehr wichtig. Die Wanderausstellung wird mit Hilfe einer Power-Point-Präsentation, eines Vortrags und einer Führung durch die Ausstellung erläutert. Teilnehmer sind Klassen der Jahrgangsstufen 7 bis 12. Eine Führung mit Vortrag und Film dauert ca. 2-3 Unterrichtsstunden.

Die Wanderausstellung erreicht bundesweit regelmäßig zahlreiche Menschen, darunter mehrheitlich Jugendliche und Kinder. Einen großen Erfolg hat in dieser Hinsicht das Schulunterrichtsprojekt „Integration der Deutschen aus Russland als Erfolgsgeschichte in Deutschlan“. Ein Teil der Schüler mit russlanddeutscher Herkunft erstellt für dieses Projekt eine Ahnentafel oder einen Stammbaum aus der eigenen Familiengeschichte.

Dieses Schulprojekt erreicht pro Jahr über 30.000 Schüler in etwa 200 Schulen und 1.100 Schulklassen. Im Corona-Jahr 2021 wurden diese Zahlen wegen der Pandemie leider nicht erreicht. Für das neue Jahr 2022 ist das Projekt vom Bundesministerium des Innern in Berlin erneut genehmigt worden.

Sie haben viele Länder besucht, in denen Russlanddeutsche und ihre Nachkommen leben. Welche Länder bzw. Fahrten dorthin waren das, und wodurch blieben Sie in Ihrem Gedächtnis besonders haften?

Dazu gehören die beiden Fahrten nach Südamerika in den Jahren 2005-2006 und 2007-2008 zu den Nachfahren der Wolgadeutschen in Argentinien. 36 russlanddeutsche Sänger, Tänzer und Musiker aus Deutschland zeigten an 16 Orten in Argentinien das Programm „Zu Gast auf einer deutschen Hochzeit in Russland“. Der Erfolg dieser Konzertreise in Argentinien war einer der Höhepunkte in meinem Leben. Auch bei meiner Reise in die USA und Kanada im Jahr 2000 bin ich vielen Nachkommen der Russlanddeutschen und deren Kulturvereinen begegnet.

Was haben Sie gefühlt, als Ihnen das Bundesverdienstkreuz überreicht wurde? Wodurch blieb Ihnen dieser Tag besonders in der Erinnerung?

Ich war überwältigt von der Anerkennung meiner Arbeit. Das hätte ich mir vorher niemals vorstellen können. Unsere russlanddeutschen Landsleute gelten als ein Musterbeispiel für die Integration in Deutschland, daher sollte es meiner Meinung nach auch ein Bundesverdienstkreuz für die gesamte Volksgruppe der Deutschen aus Russland geben.

Wo fand die Verleihung statt, und wer überreichte Ihnen die Auszeichnung?

Die Verleihung fand am 15. März 2019 in München durch die damalige bayerische Sozialministerin Kerstin Schreyer statt.

Wie verbringen Sie Ihre Freizeit?

Meine freie Zeit verbringe ich im Kreise meiner Familie oder mit Freunden, mit denen ich manchmal auch in den Urlaub fahre. In meiner Freizeit pflege ich gerne Kontakte zu den russlanddeutschen Kulturgruppen und Vereinen in Deutschland, Russland, Kasachstan, Usbekistan, Argentinien sowie in anderen Ländern.

Welcher Abschnitt Ihres beruflichen Lebens ist Ihnen besonders bedeutend und wodurch?
Dazu gehören die vielen Gastspielreisen des Deutschen Theaters Kasachstan quer durch das Riesenland UdSSR und die ersten zwei großen Festivals der deutschen Kultur im Januar 1988 in Temirtau und im Gebiet Karaganda sowie im Oktober 1990 in Alma-Ata, die ich damals initiiert und organisiert hatte.

Wie reifte überhaupt die Idee heran, ein Festival der deutschen Kultur und Kunst zu veranstalten?

Schon als Schüler der Mittelschule in Tobolino (jetzt: Derbisek), Rayon Sary-Agatsch, Gebiet Schymkent, später als Student in Schymkent und Alma-Ata verspürte ich eine große Leidenschaft und Begeisterung, Kontakte zu den russlanddeutschen Schriftstellern, Musikern, Sängern, Künstlern und Laienkunstgruppen zu knüpfen und zu pflegen. So nahm ich schon sehr früh an Gastspielreisen einiger deutschen Gruppen in Kasachstan als Organisator, Gesangssolist und Moderator teil.

Meine vielen Kontakte zu den Kulturträgern unserer Volksgruppe konnte ich nach dem Beginn meiner Tätigkeit am Deutschen Theater Temirtau noch weiter ausbauen und vertiefen. Als stellvertretender Direktor des Deutschen Theaters Temirtau-Almaty konnte ich meinen langjährigen Traum 1990 verwirklichen und alle – absolut alle – deutschen Gruppen für Gesang, Tanz und Musik in der ehemaligen Sowjetunion zu einem großen Festival der deutschen Kultur und Kunst in die damalige kasachische Hauptstadt Alma-Ata einladen. Somit wurde das Zweite Allunionsfestival vom 23. bis 26. Oktober 1990 mit über 2.000 Teilnehmern und über 120 deutschen Chören, musikalischen Ensembles und Orchestern, Gesang- und Tanzgruppen aus der damaligen gesamten UdSSR, aber auch aus der BRD und DDR, zum größten Ereignis in der 250-jährigen Kulturgeschichte der Deutschen in Russland.

Vielen Dank für das Gespräch.

Nadeshda Runde

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