Der Zug rumpelte langsam in den Bahnhof ein. Es war irgendwann in den 90er Jahren, als die Trashband Djuna diese Stadt besang, diesen Ort, wie kein zweiter auf der Karte, die Stadt mitten in der Steppe: „Und das ist wo, wo, wo, wo? In Karaganda!“ Der Wurm steckte mir im Ohr, als ich vor einer Woche am Bahnhof in Karaganda ankam.

Karaganda ist in erster Linie bekannt für seine Kohleminen, für stalinistische Arbeitslager und für die deutsche Minderheit, die sich hier nach der Vertreibung durch Stalin niederließ. Ich wusste ansonsten nicht viel von der Stadt. Ich stellte mir ein verschlafenes, durch und durch sowjetisches Provinznest vor, dessen beste Zeiten weit zurück lagen. Doch schon im Taxi auf dem Weg zum Hotel wurde mir klar, dass diese Steppenstadt doch sehr viel mehr zu bieten hatte.

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Es sollte hier einen ganz hübschen Park geben, mit Karussells, Schaschlik-Buden und Bierständen, an einem kleinen See gelegen. Also los! Ich spazierte durch die Innenstadt in Richtung des Parks. Karaganda ist in Wahrheit ein Schmuckstück, ein Prachtexemplar stalinistisch-sowjetischer Architektur der 50er Jahre. Das Stadtzentrum bietet eine Kulisse des sozialistischen Klassizismus in Reinform. Die Straßenzüge sind neu hergerichtet und die historischen Gebäude behutsam renoviert. Für mich als Freund sozialistischer Architektur eine wahre Freude. Ich habe bis dato kaum einen anderen Ort gesehen, der ein solch vollständiges Ensemble stalinistischen Pomps bietet.

Nur ein paar Straßenzüge weiter fand ich ein anderes Kapitel sowjetischer Architekturgeschichte. Leonid Breschnews Modernismus überzog einst das Land mit geradlinigen Zweckbauten aus Glas und Beton, ganz ohne Verschnörkelungen. Der massive Gebrauch der „Platte“ fiel in diese Zeit. Riesige Plattenbauten und Wohnstädte für die sowjetische Arbeiterschaft entstanden und prägen auch heute noch das Bild vieler Städte. Der Einheitsbrei wurde durch Ornamentik, großflächige Gemälde oder Mosaiken an den Hauswänden aufgelockert. Diese Wandbilder waren oft inhaltsfrei, nicht selten aber hochgradig politisch. Sie priesen den Kommunismus, das Proletariat, den Kohle- oder Stahlarbeiter oder die Raumfahrt. Kommunistische Symbole waren nach dem Fall der Sowjetunion oft verhasst und wurden zerstört, im besten Falle gering geschätzt und dem Verfall preisgegeben.

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Nicht so in Karaganda. Es scheint, dass sich die Stadt auch liebevoll um diese Überbleibsel der Vergangenheit kümmert, die Werke der Sowjetischen Monumentalkunst pflegt und restauriert. Und so finden sich über die ganze Stadt verteilt unzählige Mosaiken und Wandreliefs in erstaunlich guter Kondition. In vielen Fällen wird die Stadtgeschichte des Kohleabbaus und des Bergbaus in den Mosaiken und Monumenten thematisiert.

Karaganda hat offensichtlich auch eine gewisse Passion für den Weltraum. Ich fand eher zufällig nicht weniger als drei Monumente mit Bezug zur sowjetischen Raumfahrt. Erst im Jahre 2014, zum 80. Geburtstag des Kosmonautenhelden Juri Gagarin, wurde ihm zu Ehren ein imposantes Denkmal errichtet. Und von der Fassade des Kaufhauses „Jubileiny“, einst das größte Kaufhaus der Kasachischen Sowjetrepublik, prangt ein mehrere Stockwerke großes Mosaik eines durch den Äther in die Weite des Weltraumes gleitenden Kosmonauten. Durch die Renovierung des ganzen Gebäudes ist es zum Glück in ausgezeichnetem Zustand. Woher dieser Hang zur Raumfahrt einst kam, ist schwer zu sagen. Karaganda liegt allerdings auf der Flugbahn der Sojus-Raketen vom Kosmodrom Baikonur zur Internationalen Raumstation, und so stürzen immer wieder abgebrannte Raketenstufen auf das Gebiet Karaganda.

Ich hatte nicht erwartet, dass Karaganda eine solch schöne, saubere und auch architektonisch interessante Stadt ist. Es war schon fast dunkel, als ich schließlich in dem kleinen Park ankam. Aber ich war über meine Entdeckungen hoch erfreut. Ich drehte noch schnell eine letzte Runde mit dem alten, rostigen Riesenrad und bestellte mir eine Portion Schaschlik.

Philipp Dippl

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