Anlässlich des Berlin-Besuchs von Präsident Nasarbajew Anfang Februar 2012 spricht der GUS-Experte Alexander Rahr mit der DAZ über Kasachstan, Russland und aktuelle Fragen.
DAZ: Herr Rahr, im Jahr 2011 begingen Nachfolgestaaten der Sowjetunion den 20. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit. Nicht alle hatten Grund zum Feiern. Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die wirtschaftspolitische Entwicklung der letzten Jahre in Kasachstan?
Alexander Rahr: Kasachstan hat die 90er Jahre hinter sich gelassen und eine rasante Entwicklung hingelegt. Es befindet sich im Übergang von einer Regionalmacht zu einem großen internationalen Akteur. Als weltweit fünftgrößter Erdölexporteur profitiert es von seinem großen Rohstoffpotential. Die geographische Nähe zu Asien und dem Mittleren Osten machen es zu einem wichtigen sicherheitspolitischen Akteur für den Westen. Innerhalb des zentralasiatischen Raumes nimmt das Land eine Führungsrolle ein. Auf internationaler Ebene behauptet sich Kasachstan deshalb selbstbewusst; der Ausbau der Eurasischen Union wird seine Stellung dahingehend noch stärken. Vor allem das kürzlich zwischen Deutschland und Kasachstan geschlossene Abkommen über die strategische Partnerschaft im Rohstoff-, Industrie- und Technologiebereich zeigt, welch wichtigen Partner Kasachstan schon heute für die westliche Welt darstellt. Da seine Position jedoch oft unterschätzt wird, läuft der Westen Gefahr, dass Kasachstan sich dem asiatischen Raum zuwendet.
In Ihrem neuen 2011 publizierten Buch „Der kalte Freund“ analysieren Sie auch die Politik in Zentralasien. Sie schreiben über den „klugen kasachischen Staatschef Nasarbajew“, loben seine Initiativen zur Gründung einer „Eurasischen Wirtschaftsunion“, einer gemeinsamen eurasischen Währung (Evras) sowie eines Gas-Kartells. Welche Bedeutung messen Sie dem in westlichen Medien mitunter unterschätzten Politiker Nasarbajew zu?
Nasarbajew ist ein wichtiger und fähiger Politiker. Seine Politik hat einer relativ breiten Bevölkerungsschicht mehr Wohlstand und Stabilität gebracht. Außerdem leistet Nasarbajew einen enormen Beitrag zur Nichtverbreitung von Atomwaffen. Für ein Land, wo 20 bis 25 Prozent der weltweiten Uranvorkommnisse liegen und das an zwei offizielle und zwei inoffizielle Atommächte grenzt, ist dies ein positives Signal, das zur Stabilität in der Region beiträgt.
Wie sehen Sie die mittel- und langfristigen Auswirkungen des kasachischen OSZE- und SchOZ-Vorsitzes sowie des Vorsitzes über die Organisation für Islamische Zusammenarbeit?
Mit dem Vorsitz in der OSZE, der SchOZ und der Organisation für Islamische Zusammenarbeit 2010 bzw. 2011 konnte Kasachstan seine Position auf internationaler Ebene festigen. Kasachstans Anspruch auf mehr Mitsprache in internationalen Organisationen geht einher mit seiner erstarkten wirtschaftlichen Situation. In der Folge bedeutet das für den Westen, auf pragmatische Zusammenarbeit zu setzen, um nicht am Ende auf Grund werteorientierter Forderungen den Kürzeren zu ziehen. Was Kasachstans Rolle in der Schanghaier Organisation für Sicherheit betrifft, ist es vor allem in seinem Interesse, Russlands und Chinas Einfluss auf Zentralasien zu kontrollieren und auszugleichen. Langfristig sieht sich Kasachstan auch als Vermittler im Dialog zwischen Ost und West.
Wie schätzen Sie die Anti-Krisen-Maßnahmen der kasachischen Regierung ein?
Von welchen Maßnahmen Sie im Speziellen sprechen, geht aus Ihrer Frage nicht hervor. Da Kasachstan sich erst am Beginn einer diversifizierten Wirtschaft befindet und diese noch sehr auf dem Rohstoffexport beruht, war das Land sehr stark von der Wirtschaftskrise betroffen. Kasachstan hat sie jedoch viel schneller überwunden als erwartet, dank der schnell steigenden Rohstoffpreise. Jetzt setzt sich das Land sehr ehrgeizige Ziele. Mit dem Programm „Strategie 2030“ will Kasachstan im Jahr 2030 zu den 50 höchstentwickelten Ländern gehören.
In nächster Zeit finden sportliche Großereignisse in Osteuropa bzw. der GUS statt. Kasachstan bewirbt sich als Austragungsort für die 24. Olympischen Winterspiele. Wie schätzen Sie Astanas Chancen ein?
Die Chancen für Astana stehen nicht schlecht. Die Resonanz nach den im vorigen Jahr stattgefundenen Asiatischen Winterspielen war durchweg positiv.
Sowohl Russland als auch Kasachstan haben im Westen (noch) ein Negativ-image. Neben westlicher Ignoranz/Arroganz sowie Stereotypen aus der Zeit des Kalten Krieges könnte dies auch an der Vermarktung liegen. Russische Firmen z.B. geben im Schnitt 55 Prozent ihres Umsatzes für technologische Ausstattung aus, aber nur 0,3 Prozent für Marketing und 0,5 Prozent für Weiterbildung. Sehen Sie da Handlungsbedarf?
Zunächst ist es wichtig, die Art eines Unternehmens zu spezifizieren, wenn man über Marketing spricht, was aus Ihrer Frage jedoch nicht hervorgeht. Es ist aber aus drei Gründen problematisch, Marketing in Russland mit unserem westlichen Verständnis von Marketing zu vergleichen. Zunächst einmal existieren Marken und Marketing als Verkaufsrezept in den USA und im Westen seit mehr als 100 Jahren, die Marktwirtschaft in Russland aber erst seit 1991. Marketing als Wissenschaft zieht dort eher Künstler, Designer oder Psychologen an, als Experten in Verkauf und Budgetplanung. Zweitens erfordert Marketing den Zugriff auf eine Vielzahl von Daten und Fakten, beispielsweise, um eine Zielgruppe feststellen zu können. In Russland ist es schwierig, an solche Daten wie z.B. das Einkommen heranzukommen, da diese nicht öffentlich zugänglich oder intransparent sind oder noch gar nicht erhoben wurden. Die Größe des Landes, verschiedene Kulturen und die Unterschiede zwischen Stadt und Land erschweren diesen Prozess zusätzlich. Drittens stehen russische Unternehmen, die ihre Produkte im Westen verkaufen wollen, auch vor einem Sprachproblem. Das Russische als slawische Sprache folgt einem ganz anderen Sprachmuster als dem Englischen. Was sich auf Russisch gut anhört, gilt nicht für das Englische und umgekehrt.
Laut einer Studie von Goldman Sachs wird Russland 2030 die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt sein und die Bundesrepublik hinter sich lassen. Ebenfalls werden dann die anderen BRIC-Staaten (Brasilien, Indien und China) vor Deutschland liegen. Aber wird nicht gerade die chinesische Dominanz zu neuen wirtschaftspolitischen Konstellationen und Koalitionen auf der internationalen Ebene führen? Möglicherweise sind die Modernisierungs- und Rohstoffpartnerschaften (fossile Brennstoffe, seltene Erden) nur der Anfang?
Chinas wirtschaftliche Entwicklung und deren Auswirkung spüren wir doch schon heute. Aber wenn China weiterhin wachsen möchte, braucht es Energielieferanten als Partner. Eine Rohstoffpartnerschaft ist deswegen auch längerfristig in Chinas Interesse. Mit Russland und im zentralasiatischen Raum setzt China deshalb auf einen Ausbau der Zusammenarbeit im Energiebereich.
Eine ebenso wichtige Rolle spielt dabei der Ausbau einer Infrastruktur. Neben Pipelines ist das Projekt eines Transportkorridors von Westchina nach Westeuropa von besonderer Bedeutung. Von dieser Brücke nach Asien kann auch der Westen im Handel mit China profitieren.
Welche Rolle spielt die von Russland, Weißrussland und Kasachstan neu ins Leben gerufene Eurasische Wirtschaftskommission (EWK) und welche Vorteile ergeben sich daraus für deutsche/europäische Unternehmen, die dorthin exportieren möchten bzw. Produktionsstandorte planen?
Die Eurasische Wirtschaftskommission ist die erste supranationale Institution des seit dem 1. Januar 2012 geltenden Einheitlichen Wirtschaftsraumes zwischen Russland, Belarus und Kasachstan. Aus der Zollunion und dem heutigen einheitlichen Wirtschaftsraum soll die Eurasische Union entstehen. Die Wirtschaftskommission bildet dafür den Grundstein und verdeutlicht den Integrationswillen der beteiligten Staaten. Was das genau für deutsche und europäische Unternehmen bedeutet, ist heute noch nicht im Genauen abzusehen. Allerdings werden deutsche Unternehmen, die wirtschaftlich generell stärker mit Russland vernetzt sind, im Besonderen von einem gemeinsamen Markt Russlands mit Kasachstan und Belarus profitieren. Vor allem wenn Russlands WTO-Beitritt dazu führt, dass WTO-Regeln auch Regeln des eurasischen Wirtschaftsraumes werden. Im Moment bestehen aber noch Ausnahmen und hohe Zölle für einzelne Industrien, z.B. die Automobilindustrie, die als Teil des Einheitlichen Wirtschaftsraumes auch in Belarus und Kasachstan gelten. Export oder Produktstandortplanung werden deshalb erst nach dem Ablauf dieser Zollfristen profitreicher.
Nicht nur in Frankreich und den USA, auch in Russland finden 2012 Präsidentschaftswahlen statt. Hat die Medwedew/Putin-Administration das durch die Finanzkrise von 2008 möglicherweise verstärkte Protestpotential nach den Dumawahlen vom 4. Dezember 2011 unterschätzt? Es ist ja nicht nur die politische „Systemopposition“ dabei vertreten, sondern auch das großstädtische, zuvor apolitische Mittelschichtenmilieu sowie Personen aus Kultur und Publizistik wie der Schriftsteller Boris Akunin, der Musiker Juri Schewtschuk, die Journalistin Swetlana Sorokina sowie die Fernsehmoderatorin Xenia Sobtschak.
Putin hat nicht die Opposition selbst, deren liberale Spitzenpolitiker zur Wahl nicht zugelassen worden sind, sondern den Verlauf der Demonstrationen unterschätzt. Unter Medwedews Präsidentschaft wurde als Teil der Modernisierungspolitik der Druck auf die Medien verringert mit der Folge, dass kritische Medien ein zunehmendes Publikum finden. Das Internet spielt eine sehr große Rolle, denn es stellt Zugang zu Informationen fernab der Kreml-Interpretation dar und dient als Plattform für die Organisation der andauernden Proteste. Dies hat eine solche Eigendynamik entwickelt, mit der Putin nicht gerechnet hat. Politisch aktive Bürger sind ein neues Phänomen in Russland. Dennoch konnte nur durch Putins eigene Politik liberaler Wirtschaftsreformen eine solche Mittelschicht entstehen, die heute mehr will als politische Stabilität und ihre Erwartungen an einen hohen Lebensstandard knüpft.
Wie bewerten Sie die deutsche Kasachstan-Berichterstattung? Ist sie moralisierend-missionarisch, oberflächlich-dogmatisch und in den eigenen Negativstereotypen befangen oder gibt es mittlerweile auch Verständnis für Kasachstans eigenen Weg und seine schwierigen Transformationsprozesse?
Berichterstattung über Kasachstan findet nur zu Großereignissen wie Wahlen oder Staatsbesuchen statt. Grundsätzlich wird das Land von der westlichen Presse vernachlässigt. Wenn doch berichtet wird, so passiert dies in der Tat moralisierend und in Negativstereotypen befangen. Die Presse reagiert gewohnt mit moralischen Appellen an Menschenrechte und Pluralismus, wie dies beispielsweise der Fall war, als Nasarbajew vorletzte Woche das Seltene-Erden-Abkommen mit Frau Merkel abgeschlossen hat. Eine solche Berichterstattung wird dem Bild des heutigen Kasachstan nicht gerecht.
Welchen ökonomischen Weg werden die Länder Kasachstan, Weißrussland und Russland langfristig einschlagen? Bevorzugt man eher ein westliches Wirtschaftssystem oder wird man sich für die chinesische Variante des Staatskapitalismus und einer gelenkten Wirtschaft entscheiden?
Auch das ist heut noch nicht absehbar. Ich denke, der WTO-Beitritt Russlands wird, wenn auch nicht heute oder morgen, sondern mit Ablauf der Zollausnahmen zu mehr Offenheit, Transparenz und Stabilität der russischen Wirtschaft führen, dies wird sich ebenso auf die Integration in der Eurasischen Union auswirken. Die bereits bestehende Zollunion und der daraus folgende Einheitliche Wirtschaftsraum zeigen ebenfalls in diese Richtung.
Nach Fukushima und der darauf folgenden Abkehr der Bundesregierung von der Atomenergie gewinnt möglicherweise russisches und zentralasiatisches Erdgas als Brückenfunktion für die Energieversorgungssicherheit des Industriestandortes Deutschland an Bedeutung. Insbesondere, da durch die bald in Betrieb gehenden Pipelines North Stream, South Stream und Nabucco keine „Gaskriege“ mit den Transitländern zu befürchten sind. Vor den japanischen Ereignissen spielte Erdgas in den Berliner Strategiepapieren keine große Rolle. Wie schätzen Sie die Entwicklung ein?
In der Tat kann Russland sich, so zynisch das klingt, glücklich schätzen, dass Fukushima Deutschland und die Schweiz zu einer Energiewende veranlasst hat. Ist doch der zentral- und westeuropäische Markt der profitabelste für russische Unternehmen: Gazprom liefert nur 30% seines Gases in die Türkei sowie nach Westeuropa, erzielt damit aber 60% seines Gewinnes. Während Nordstream einige Transitstaaten einfach umgangen hat und ex-post von der EU als Gemeinschaftsprojekt geadelt wurde, ist Nabucco ein Projekt, das Russland ausschließen soll, dabei aber Europas Unbeliebtheit in Zentralasien verkennt. Aserbaidschan war geschickt genug, die Kontrolle über seine Gaslieferungen durch den Bau einer eigenen Pipeline durch die Türkei zu behalten. Nabucco endet also an der türkischen Grenze, und Europa gewinnt eben keine zusätzliche Unabhängigkeit. Die Karten sind nun aus europäischer Sicht nicht besser verteilt, als hätte man ein Abkommen mit Russland eingegangen. Genau daran kranken die Energiebeziehungen zu Russland: statt eine Allianz aus Konsumenten und Produzenten zu schmieden, dominieren Konkurrenzbeziehungen.
Mit Alexander Rahr sprach Konstantin Dallibor.
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Alexander Rahr ist Leiter des Berthold-Beitz-Kompetenzzentrums für Russland, die Ukraine, Belarus und Zentralasien in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Der Politikberater hat beste Verbindungen zur Elite in Politik und Wirtschaft und wird in Ost und West geschätzt. Rahr ist Träger des Bundesverdienstkreuzes, Ehrenprofessor an der Moskauer Staatsuniversität für Internationale Beziehungen und der Higher School of Economics.