„Fernheizungsrohre verliefen oberirdisch kreuz und quer durch die Stadt und gaben Temirtau den Anschein einer riesigen bewohnten Fabrikanlage. Fabrikessen bliesen den Rauch in allen erdenklichen Schattierungen von weiß bis ganz schwarz emsig in den Himmel, wo er unterhalb der Wolken hängen blieb.“

So beschreibt eine der Protagonistinnen in Elenora Hummels 2019 erschienenen Roman „Die Wandelbaren“ ihre ersten Eindrücke der Stadt, in der sie als Schauspielerin am neu gegründeten „Deutschen Schauspieltheater“ auftreten soll. Begeisterung klingt anders. Auch meine Begeisterung hält sich in Grenzen, als ich aus dem Bus steige, der mich vom nahegelegenen Karaganda nach Temirtau bringt. Eine Stadt, die sich überall auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion befinden könnte – wären da nicht die landestypischen Muster auf den Plattenbauten, die Weiten der Steppe um die Stadt herum, die darauf hinweisen, dass ich in Kasachstan bin.

Als das Deutsche Theater 1980 in der Stadt eröffnet wurde, lebten hier noch ca. 13.000 Deutsche. Allerdings nicht ganz freiwillig, handelte es sich doch zumeist um deportierte Wolgadeutsche. Die gesamte Region wurde in diesem Ausmaß auch eher widerwillig besiedelt. Solschenizyn nannte Karaganda einmal gar „die größte Provinzstadt des Archipels GULag“. Es verwundert nicht, dass sich der primäre Grund einer Besiedlung auch im Stadtbild niederschlägt: die Ausbeutung der örtlichen Kohlevorkommen. Als den jungen, in Moskau ausgebildeten Schauspielern des Deutschen Theaters verkündet wird, dass ihr Theater in Temirtau stehen wird, sagt der Name den meisten nichts. Nur eine Schauspielerin berichtet von den Schloten der Fabrikanlagen als einzige Sehenswürdigkeit der Stadt.

Die Wirkungsstätte des Deutschen Theaters Temirtau

Es ist ein Morgen im September. Ich schleppe mich durch die sehr breiten Straßen, es ist noch ein wenig kalt. Die Zugfahrt von Almaty nach Karaganda steckt mir noch in den Knochen. Um mich herum erheben sich die heruntergekommenen Zeugen eines zerbrochenen Traums, an den hier wohl kaum einer glaubte. Ich versuche den Tag über, die Stadt zu besichtigen, aber Temirtau scheint mehr an seinem Kohleausstoß als an einer lebenswerten Innenstadt gelegen. Wenigstens ist es nicht mehr kalt.

Gegen Abend mache ich mich auf zum eigentlichen Ziel meiner Reise. Ich steige in einen Bus, den möglicherweise auch schon die ersten Besucher des Deutschen Theaters genommen haben. Er ist gut gefüllt, ich stehe. Durch eine geöffnete Dachluke dringt Frischluft herein. Ich würde mich am liebsten darunter stellen, denn der Bus gibt jede Unebenheit an seine Fahrgäste weiter, und mit meinen 1,88 Meter muss ich eine gekrümmte Haltung einnehmen, um schmerzhafte Kontakte mit der Fahrzeugdecke zu vermeiden. Nach guten zwanzig Minuten erreichen wir das Theater. Die Umgebung ist etwas freundlicher, das Ensemble in Weiß- und Gelbtönen gehalten. Ein klassizistischer Bau der fünfziger Jahre: Das ist die Wirkungsstätte des ersten deutschsprachigen Theaters der UdSSR seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Auch hier sind rauchende Schlote zu sehen, doch das Grün des neben dem Theater liegenden Parks und die hellen Farben der Häuser stimmen mich versöhnlich.

Deutsches und russisches Erbe

Da ich noch etwas Zeit bis zum Beginn der Aufführung habe, beschäftige ich mich mit einem ausliegenden Flyer. Das seit Ende 1989 in Almaty ansässige „Staatliche Akademische Deutsche Theater“, das inzwischen aber eher unter dem Namen „Nemetski“ („Deutsch“) zu finden ist, verbindet mit seiner Gastspielreise nach Temirtau gleich mehrere Traditionen. Einerseits ist es sein Gründungsort, andererseits gehörten Gastspielreisen schon seit seiner Entstehung zum festen Programm des Theaters.

So sollten auch andere Siedlungsgebiete der gut zwei Millionen Sowjetdeutschen abgedeckt und unterhalten werden. Die diesjährige Gastspielreise führte mit Stücken wie „Per Gynt“, „Der Revisor“ oder dem Kinderstück „Die Schneekönigin“ nach Kokschetau, Karaganda und eben nach Temirtau. Es werden nicht nur seit Gründung des Theaters russische Klassiker aufgeführt, sondern auch damals gab es schon Stücke, die auf Russisch gespielt wurden. Dies ist nicht zuletzt auch der massiven Abwanderung der eigentlichen Zielgruppe des deutschen Theaters (und schließlich auch seiner Schauspieler) geschuldet, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion einsetzte.

Das deutsche, europäische Erbe hat sich allerdings nicht nur im Namen erhalten, sondern auch in der Theaterkultur, wie mir eindrucksvoll beim Besuch des Stücks „Der Revisor“ vor Augen geführt wird. Auch wenn „Die Schneekönigin“ sprachlich eher meinem Niveau entsprochen hätte, zieht mich die ausverkaufte Aufführung in ihren Bann. Den düster-obskuren Episoden folgen lustige Szenen, die auch meine etwa achtjährige Platznachbarin zum Lachen bringen. Auch der Autor Nikolaj Gogol hätte sicherlich seine Freude gehabt.

Besonders hervorzuheben ist die Entscheidung, die Hauptaussage des Stücks in der Anfangsszene symbolhaft-verschwommen vorwegzunehmen. Dadurch wird beim Zuschauer eine unbestimmte Ahnung hervorgerufen, die im gesamten Stück hintergründig-omnipräsent bleibt – ein künstlerischer Imperativ, sich mit der tieferen Bedeutung des Stoffes auseinanderzusetzen. Neben den unterhaltsamen, obskuren und teilweise auch ästhetischen Szenen des Stücks läuft so auf einer tieferen Ebene parallel ein Erkenntnisprozess ab, der den Spannungsaufbau der Handlung unterstützt und gleichzeitig von ihr vorangetrieben wird.

Unterdrückung und Stigmatisierung der Deutschen

Angeregt verlasse ich nach der Vorstellung das Theater und lasse den überfüllten Bus fahren, um auf den nächsten zu warten. Stattdessen kommen nach einiger Zeit zwei angetrunkene Kasachen, die mir sagen, dass keiner mehr kommen wird. Ich zücke mein Handy, will mir ein Taxi über Yandex bestellen, da weit und breit ist keins zu sehen. Glücklicherweise haben die beiden Kasachen das gleiche Problem. Woher ich komme? Deutschland? Gute Arbeitsplätze, nicht so wie hier, sagt der eine, der weniger betrunken ist und als Bergmann arbeitet. Der andere spricht meist Kasachisch, wundert sich, dass ich ihn nicht verstehe und flicht gelegentlich ein „Gitler kaputt!“ in seinen Redefluss ein.

Irgendwie schaffen die beiden es trotzdem, ein Taxi zu organisieren. Der Fahrer, ein breiter Mann mit kurzgeschorenen Haaren um die 50, trägt Armeekleidung, grüßt seine Fahrgäste mit Handschlag. Die beiden Kasachen steigen aus, ich muss noch etwas weiter. „Do swidanija, nemez!“ sagt der stark Angetrunkene. Mein Fahrer ist etwas irritiert, fragt nach. Ich bestätige. Aber meine Eltern, wo kommen die her? Auch aus Deutschland. „Ah, ty nastojaschtschij nemez!“ („Ah, du bist ein echter Deutscher!“) ruft er aus. „Früher hat es viele Deutsche hier gegeben…“ fügt er hinzu, um dann von seiner Tochter zu erzählen, die in Bayern wohnt und Geige spielt.

Als ich am nächsten Tag im Bus mit einer jungen Bewohnerin Temirtaus spreche, versuche ich das Gespräch noch einmal auf die Deutschen hier zu lenken. Sie überlegt kurz, dann fällt ihr ein, dass es in ihrer Klasse eine Deutsche gebe, die spräche aber auch Russisch.
Das Russische zur vornehmlichen Bühnensprache des deutschen Theaters zu machen, wäre eigentlich schon zu seiner Gründung eher Abbild der sprachlichen Realität gewesen. Durch jahrzehntelange Unterdrückung und Stigmatisierung hatten viele Sowjetdeutsche ihre Muttersprache aufgegeben. Und so trugen die meist russischsprachigen Theaterbesucher in Temirtau Kopfhörer, um parallel zum deutschen Text der Schauspieler eine russische Übersetzung zu hören.

Joseph Karl-Friedrich Brömel

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