Seit Februar hat sich die Welt ganz und gar verändert. Was gestern noch als stabil galt, gibt es heute nicht mehr. Der Krieg in der Ukraine ist ein Wendepunkt für alle Länder. Die einfachen Menschen fällen keine politischen Entscheidungen, doch sie sind von ihnen betroffen – denn im Zuge von Konflikten verlieren sie den Kontakt zueinander. Wie ist es zur Zeit um das Verhältnis zwischen russischsprachigen Menschen und der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland bestellt? Das hat unsere Autorin einige Bekannte gefragt, die aus eigener Erfahrung berichten können.
Was mich bewegt hat, über dieses Thema zu schreiben
Ich lebe in Kasachstan, unterrichte seit 2014 Deutsch und habe auch einige Bekannte in Deutschland. Mein Interesse an der deutschen Kultur begann 2002. Wie viele Menschen in Kasachstan habe ich unterschiedliche Wurzeln – elterlicherseits bin ich Halb-Ukrainerin und Halb-Belarussin. Der Krieg in der Ukraine betrifft mich trotzdem nicht persönlich, weil ich zum Glück keine Verwandten dort habe. Ich sehe aber regelmäßig, wie schnell es geht, dass die Freundschaft zwischen Völkern, Verwandten, und Freunden zerstört wird, weil die Propaganda der Medien Menschen aufwiegelt: einige hetzen gegen Ukrainer, andere gegen Russen – jeweils auch gegen die einfachen Menschen.
Russischsprachig heißt nicht pro Putin
Ich habe mit drei Frauen aus Deutschland gesprochen, die ich persönlich kenne: der Hausfrau Natalya, der Beamtin Maria und der Geschäftsfrau Rina. Sie sind alle russischsprachig und in die deutsche Gesellschaft integriert, einige haben Bekannte in der Ukraine und leiden mit ihnen. Den Krieg lehnen sie ab. Sie schildern, wie sie die Reaktion der deutschen Bevölkerung aktuell erleben, und wie sie selbst in ihrem Bekanntenkreis mit dem Thema umgehen.
Die erste Reaktion in Deutschland
Natalya: Entsetzen und Angst sind die besten Worte, womit man den Gemütszustand im Land seit Beginn der Invasion beschreiben kann, denn die Deutschen wissen, was Krieg bedeutet. Sie sind diejenige, die das aus historischer Erfahrung kennen und sich deshalb gegen Krieg in jeder Form aussprechen.
Rina: Niemand versteht, wie man es heute überhaupt wagen kann, in einer so zivilisierten Epoche einen Krieg zu beginnen. Die Solidarität ist groß, die Menschen helfen den Ukrainern.
Maria: In meinem Bekanntenkreis hat man die Invasion sofort als Putins Krieg gesehen, und nicht als Russlands Krieg. Die Reaktion darauf ist durchweg ablehnend. Was die Hilfsbereitschaft betrifft: Wenn ich die aktuelle Situation mit den Konflikten in Syrien oder Afghanistan vergleiche, helfen die Deutschen heute mehr als damals.
Solidaritätsaktionen in den Städten
Natalya: In Dortmund gab es Demonstrationen, die von Ukrainern veranstaltet wurden. Daran nahmen auch Deutsche teil. Hier werden auch Hilfelieferungen organisiert. Die Dortmunder schicken Kleidung und Geld, und für sie sind solche Hilfsaktionen eine selbstverständliche Reaktion. Die Deutschen helfen immer gern. Natürlich gibt es auch hier Menschen, die nicht so gutherzig sind, aber insgesamt ist es ein sehr hilfsbereites und wohlwollendes Volk.
Rina: In unserer Stadt werden auch Demonstrationen, Versammlungen und Hilfslieferungen organisiert. Man koordiniert Rettungsmaßnahmen und die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Kriegsgebiet.
Maria: Ich wohne in Stuttgart. Hier sind die Hilfslieferungen gut organisiert. Die Demonstrationen veranstaltet meistens die ukrainische Gemeinde.
Die Reaktionen aus dem eigenen gesellschaftlichen Umfeld
Natalya: Ich arbeite nicht, aber mit meinen Bekannten aus dem Deutschkurs, die aus verschiedenen Ländern kommen, unterstützen wir unsere Bekannte aus der Ukraine. Mich selbst haben die Ereignisse auch mitgenommen. Ein deutscher Freund von mir merkte, wie nervös ich war, und unterstützte auch mich emotional.
Rina: Ich werde von allen nach dem Thema gefragt. Egal, wer das ist – Nachbarn, Kollegen oder Geschäftspartner. Sie fühlen alle mit. Und ich spreche auch viel darüber.
Maria: Meine Chefin fragte mich gleich, wie ich mich fühle. Sie versicherte mich, dass sich ihr Verhältnis mir gegenüber nicht verändern würde, weil ich zu einem Teil Russin bin. Schließlich seien wir alle zuerst Menschen, und dann Deutsche, Russen, Ukrainer oder Türken. Ein paar Kollegen baten, mich diese Situation ein bisschen zu erklären, denn sie verstehen die Beweggründe des russischen Präsidenten überhaupt nicht.
Gibt es Tabuthemen in Deutschland?
Natalya: Wir können hier frei über alles sprechen. Das gefällt mir. In meinem Freundeskreis gibt es viele Bekannte aus der Ukraine, mit denen wir auch darüber reden können.
Мaria: Die aktuellen Ereignisse sind kein Tabuthema. Ich habe eine Kollegin aus der Ukraine. Wir alle leiden mit ihr, weil alle ihre Verwandte aktuell im Kriegsgebiet leben.
Das Wort „Russisch“ und welche Assoziationen es weckt
Natalya: Die Deutschen in meinem Bekanntenkreis sind vernünftig. Natürlich habe auch ich davon gehört, dass russischstämmigen Kunden Dienstleistungen verwehrt worden sein sollen. Aber das kann man unterbinden. Solche Reaktionen kommen von unvernünftigen Personen.
Rina: Alles hängt vom Bekanntenkreis und dem Bildungsgrad der Menschen ab. In meinem Bekanntenkreis sehen die Menschen, dass Putin nicht gleich Russland ist. Das bedeutet, dass nicht alle Russen hinter dem stehen, was er aktuell treibt.
Angst vor Beleidigung und Stigmatisierung?
Natalya: Ich fühle mich in Deutschland wunderbar. Die Menschenrechte werden hier hochgeachtet. Man kann zwar immer auf unvernünftige Leute stoßen. Aber es gibt funktionierende Gesetze und Geldstrafen für Beleidigungen. Man kann sich dagegen wehren, deswegen habe ich davor keine Angst.
Rina: Auch ich habe davor keine Angst, weil ich von denkenden, arbeitenden und anständigen Menschen umgeben bin. Beleidigungen sind hier im Grunde unter den Menschen nicht üblich. Im beruflichen Kontext spürt man manchmal Vorsicht, wenn es darum geht, ob man mit russischen Partnern und Rechnungen arbeiten kann. Aber das besprechen wir natürlich zusammen.
Der Blick auf die Einigkeit in der Gesellschaft
Natalya: Ich denke, die Deutschen lieben ihr Land und sind stolz darauf. Nichtsdestotrotz sind sie für ihre Vergangenheit sensibilisiert und erinnern sich an sie.
Rina: In der deutschen Gesellschaft gibt es Einigkeit darüber, dass Krieg unzulässig ist und man nach besten Kräften allen helfen muss, die darunter leiden. In meiner Stadt spüre ich diese Unterstützung bei fast jeder Person – ob es Nachbarn sind oder die Leiter sämtlicher Unternehmen. Ärzte helfen Kriegsflüchtlingen kostenlos, man gewährt ihnen Unterkünfte, gibt Kleidung, Geld, oder eine Arbeit, und bittet auch andere, zu helfen.
Maria: Die Deutschen haben Angst vor Krisen und denken viel an die Wirtschaft. Sie haben Angst vor dem Krieg. Und wir, russischsprachige Menschen, nehmen uns die Situation in der Ukraine ebenfalls zu Herzen, weil wir uns sowohl mit Russland als auch mit der Ukraine verbunden fühlen.