Zuletzt war ich in einem türkischen Lebensmittelgeschäft und da fiel mir wieder auf, dass in solchen Geschäften die gesamte Familie versammelt ist, mit anpackt und von morgens bis abends gemeinschaftlich fleißig ist.
Schön! dachte ich, dass es das so noch gibt. Und sie arbeiten nicht nur zusammen, sondern leben auch alle Mann auf kleinem Raum. Und da fiel mir dann auch wieder meine Freundin Selda ein, die mit ihren Eltern und sieben Geschwistern genauso zusammen arbeitet – in einer türkischen Bäckerei – und zwischen Backstube und Theke mit eben diesen Menschen zusammen wohnt. Und da fiel mir auch wieder ein, dass das nicht so schön ist, für Selda. Denn so traut das Familienglück ausschaut, so beengend ist doch die permanente Nähe der Familie für sie. Denn eigentlich wollte Selda was anderes werden, nämlich Tänzerin. Aber das war allen, der Familie und der gesamten Nachbarschaft, zu exotisch. Noch dazu kommt, dass sie mit einem schwarzen Amerikaner verheiratet ist. Das hat Selda aber nicht freier gemacht, sondern ihre Familie hat den treuen Gatten glatt integriert – was ja an sich nett ist – aber nun hat auch er sein Plätzchen neben der Backstube gefunden und ist damit eingebunden und nicht mehr frei. Und so leben sehr viele Migrantenfamilien – Russen, Italiener, Afrikaner. Nur wir Deutsche nicht. Vielleicht machen wir etwas falsch? Uns Deutschen wird gern vorgeworfen, dass wir keine Familienbindung mehr haben, dass wir alle einzeln auf großem Raum und möglichst weit voneinander entfernt leben, dass wir unsere Eltern ins Altenheim stecken und selbst keine Familien mehr gründen. Aber weil wir es nur so kennen und unsere Eltern uns schließlich dazu erziehen, möglichst früh möglichst selbständig zu sein, geht das Konzept hier wieder auf. Und uns allen geht es gut damit und wir sehen uns aus freien Stücken. Obwohl – ein kleines bisschen Zwang ist wohl schon notwendig. Unsere Eltern drängeln und betteln auch so lange, bis wir sie dann mehr oder weniger freiwillig besuchen, öfter als wir das ohne Drängelei tun würden. Und dann ist es ja doch immer ganz schön, sich zu sehen. Aber öfter muss es dann auch nicht sein. Und wir können auch immer wieder wegfahren, in unsere eigenen vier Wände. Und arbeiten, was wir arbeiten wollen, anstatt Brötchen zu backen. Dafür nehme ich dann auch gern in Kauf, dass nicht ständig jemand um mich herum ist, der mir mit Rat und Tat helfen kann, weil Eltern gern viel öfter mit ihrem Rat daherkommen als wir es brauchen, bis es schließlich keine Hilfe mehr ist, sondern Nötigung. Denn schließlich gibt es ja das Telefon, darüber lassen sich die Ratschläge viel besser dosieren. Und wenn es brennt, fahren wir als treusorgende Kinder eben hin. Aber bis dahin erfreue ich mich an dem Familienzusammenhalt anderer in meinen eigenen vier Wänden. Wie schön, dass es beides gibt!
Julia Siebert
15/06/07