Im Norden Kasachstans, mitten in der zentralkasachischen Steppe, liegt der Ort Kurkeli – ein typisch kasachischer Aul. Der Ethnologe Philipp Jäger hat einige Wochen in Kurkeli gelebt und berichtet in der DAZ über seine Eindrücke.
/Bild: Philipp Frank Jäger. ‚Kurkelis Bewohner leben ihren eigenen Tagesablauf und ließen den Ethnologen Philipp Jäger (4.v.r.) einige Wochen daran teilhaben.’/
Auf den ersten Blick wirkt die Szenerie im Zentrum Kurkelis unheimlich. Von den früher prachtvollen Gebäuden der einstigen Sowchose sind nur die Grundmauern erhalten geblieben. Das Kulturhaus, die medizinischen Einrichtungen und die Sauna wurden nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion privatisiert und von den Käufern, denen man unlautere Geschäfte nachsagt, ausgeschlachtet um Baumaterialien wieder zu verwerten. Das Dorf hat in der Umbruchzeit – von den Bewohnern auch als „Chaos“ bezeichnet – gelitten. Erst gab es Kürzungen beim Strom, später gab es dann gar keinen mehr. Löhne wurden monatelang nicht ausbezahlt. In dieser Zeit kehrten über 30 Prozent der Bewohner dem entlegenen Ort den Rücken und zogen in die Städte.
Der alte Name des Dorfes Juschny wurde sowjetisch pragmatisch gewählt, denn es ist der südlichste Kreis des Pawlodarer Oblast unweit des Nationalparks Bajanaul, dessen Badeorte im Sommer von Inlandstouristen stark frequentiert werden. Während dort idyllische Wälder und Bergseen die Landschaft prägen, liegt das 50 Kilometer entfernte Kurkeli südlich davon, mitten in der zentralkasachischen Steppe Sary Arka („Gelber Rücken“). Im Sommer ist es heiß und trocken, somit kann das Land nur zur Viehzucht benutzt werden.
Kurkeli ist ein rein kasachischer Aul. Die meisten Menschen dort leben von ihrem Vieh. Denn Arbeit gibt es nach der Auflösung der Sowchose außer für die Verwaltungsangestellten und Lehrer, deren Monatsgehalt mit 15.000 Tenge weniger als 100 Euro beträgt, nicht. Deswegen sehen vor allem junge Leute im Dorf keine Perspektive für sich und suchen in den Städten im Umfeld, Pawlodar, Ekibastus, Karagada oder gar in der Hauptstadt Astana ihr Glück. Oft bleibt nur der jüngste Sohn zurück, der der Tradition nach das Haus der Eltern übernimmt und sie im Alter versorgt. Dieses Haus, das zum „kara shanyrak“ („Schwarzes Dachholz der Jurte“) wird, suchen die Geschwister immer wieder auf, selbst wenn die Eltern schon gestorben sind. Im Sommer kommen viele Kinder und Jugendliche aus den urbanen Zentren zu ihren Verwandten im Dorf, um sich zu erholen.
Die positive wirtschaftliche Entwicklung Kasachstans in den letzten Jahren ist auch in Kurkeli zu spüren, denn es wird wieder an der Infrastruktur gebaut. In diesem Jahr soll die in der Sowjetzeit errichtete, aber in den frühen Jahren der Unabhängigkeit durch mangelnde Wartung funktionsuntüchtig gewordene Wasserversorgung wieder flott gemacht werden. Auch ein neues Kulturzentrum wurde den Bewohnern angekündigt. Der 30-jährige Akim („Bürgermeister“) kennt die Bedürfnisse und Probleme der Menschen, aber auch die modernen Verwaltungsgesetze gut und setzt sich sehr für sein Dorf ein.
Der aktuelle Mangel an öffentlichen Versammlungsorten stört die Kasachen wenig, denn Feste werden ohnehin zu Hause gefeiert. Allen voran Hochzeiten, die fast an jedem Wochenende in Kurkeli oder den umliegenden zum Kreis gehörenden kleinen Siedlungen stattfinden. Dafür werden weder Kosten noch Mühen gescheut und für das obligatorische Beschparmak-Gericht („Fünf Finger“) Schafe oder gar Pferde geschlachtet, da Pferdefleisch als das schmackhafteste gilt. Ankömmlinge werden sogleich zum Tee gebeten und bekommen eine reichlich mit allen erdenklichen Leckereinen gefüllte Tafel („Dastarchan“) vorgesetzt, denn Gastfreundschaft wird groß geschrieben.
Hochzeiten und Spiele
Auf den Hochzeiten treffen sich alle Verwandten wieder, die sonst in der Region oder in fernen Städten zerstreut sind. Diesen Familienfesten kommt eine wichtige soziale Funktion zu, und das nicht nur innerhalb der Familie, denn auch die Gäste untereinander lernen sich kennen, und so werden nicht selten weitere Vermählungen auf den Weg gebracht. Bisweilen kommen im Sary-Arka-Gebiet, der Siedlungszone der Mittleren Horde der Kasachen, Brautentführungen vor, auch ohne dabei die Braut vorher um ihr Einverständnis zu bitten.
Großer Beliebtheit erfreuen sich die Dorffeste, auf denen traditionelle Spiele wie Wettreiten oder Ringkämpfe veranstaltet werden. Hierbei zeigen die Dorfbewohner ihr Geschick und ihr Können, indem sie die Fertigkeiten, die sie von Kind auf gelernt haben, in die Tat umsetzten. Die sportlichen Aktivitäten bieten den Jüngeren Gelegenheit, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, denn sonst stehen in der kasachischen Gesellschaft die Aksakale („Weißbärte“) im Mittelpunkt des Geschehens. Sie sind es, die Feste durch ausgedehnte Toasts beginnen und durch das Segensgebet beenden.
Eine Besonderheit der Region besteht darin, dass der Tee noch mit dem Samowar zubereitet wird, der anderswo nur noch als Antiquität in der Ecke verstaubt. Hierbei wird die Teeschale voll eingegossen, was weiter im Süden Zentralasiens als unhöflich gilt, aber die einschenkenden Frauen, meist die jüngst eingeheiratete Schwiegertochter, entlastet. Nicht nur zu den Hauptmahlzeiten, auch zwischendurch wird gern Tee gekocht, und die Menschen kommen zusammen. Dabei werden Neuigkeiten ausgetauscht oder Geschichten erzählt. Eintreffende Gäste werden unverzüglich zum Trinken animiert und müssen, wenn sie keine Zeit haben, der Sitte nach zumindest ein Stück Brot von der Tafel mit auf den Weg nehmen.
Die Menschen Kurkelis sind trotz der schwierigen wirtschaftlichen Situation, in der sie Mühe haben, ihre landwirtschaftlichen Produkte zu vermarkten, meist fröhlich. Sie leben in ihrem abgelegenen Dorf nach ihrem eigenen Tagesablauf, der vom Tierhaushalt bestimmt ist und genaue Zeitangaben nicht kennt. Durch ihre komplexen ökonomischen Netzwerke mit Verwandten, die in den umliegenden Städten wohnen, können sie es erreichen, auch ohne hohe finanzielle Mittel ihre Existenz zu gestalten. In der Familie ist jeder für jeden da.
Von Philipp Frank Jäger
28/11/08