Dagmar Schreiber arbeitet als Expertin für Tourismusentwicklung seit Juli 2008 in Almaty. Sie betreut im Informations- und Ressourcenzentrum Ökotourismus ein Netzwerk von ländlichen Gästehäusern in den schönsten Regionen Kasachstans. In ihrer DAZ-Serie stellt die bekennende Kasachstanfreundin lohnenswerte Reiseziele vor – dieses Mal das Steppenstädtchen Karkaralinsk im Nordosten Kasachstans, das temporär unerreichbar war.
/Bild: Dagmar Schreiber. ‚Die Teilnehmer des Tourismusseminars diskutieren mit Begeisterung über die Möglichkeiten nachhaltigen Tourismus im Gebiet Karaganda.’/
Schenja ist nicht da. Es ist dunkel, Schnee weht schräg über den Bahnsteig, es sind minus 20 Grad, für mich gefühlte minus 30, nach ein paar Stunden unruhigen Schlafs im so genannten Schnellzug Almaty–Karaganda. „Ich werde abgeholt“, knurre ich den Taxifahrer an, den dritten nun schon. Das hoffe ich zumindest. Die Taxifahrer jedoch mit ihrer professionellen Schwarzmalerei verfolgen mich in den Wartesaal. Schenja hat verschlafen, in zehn Minuten will er da sein, am Telefon klang seine Stimme unbekümmert. Ich richte mich auf 20 Minuten ein und beginne, gelangweilt im hell erleuchteten Wartesaal herumzuschlendern. Links liest ein junger Mann laut und leidenschaftlich kasachische Gedichte vor, die auf den Bänken Sitzenden dösen gleichmütig weiter. Mein Blick gleitet hoch zur Decke – und bleibt kleben. Ich bin fassungslos. Da oben in geschätzter sieben Meter Höhe prangen in zwei Reihen Reliefs, die Gipsfiguren säuberlich restauriert. Lebensgroße Figuren in Heldenposen, Arbeiter und Bäuerinnen mit muskulösen Körpern und heroischen Gesichtern. Der Bahnhof stammt aus der Gründungszeit von Karaganda. Ich weiß, wer damals hier die Gleise verlegt, in den Gruben geschuftet und die meisten Gebäude in der erst 1931 gegründeten Stadt gebaut hat. Es waren Zwangsarbeiter. Enteignete Bauern, politische Gefangene, deportierte Deutsche, dann auch Kriegsgefangene. Auf den Feldern schufteten die Angehörigen der Trudarmija, der (ebenfalls nicht freiwilligen) Arbeitsarmee. Solche Heldenposen dürften ihnen allen fremd gewesen sein. Es waren hungrige, frierende, ausgemergelte Gestalten, viele von ihnen haben nicht überlebt. Keiner von ihnen ist auf den Reliefs zu sehen. Auch keine kasachischen Gesichter, nur Heroen mit kantigen europäischen Zügen. Sowjetrussische Kraft durch Freude oder Freude durch Kraft. Mir wird ein bisschen schlecht, um fünf Uhr dreißig in der Hauptstadt der kasachischen Steppe.
Zeitreise auf Stahlrohrgestell
„Dagmar?“ – Das muss Schenja sein. Ein schlaksiger, freundlicher Junge, steht er hinter mir und schnappt sich meinen Rucksack, sagt „Entschuldige für die Verspätung!“ (es waren wirklich nur zehn Minuten) und stürmt nach draußen. Die Taxifahrer ziehen enttäuscht ab. Sie tun mir ein bisschen leid. Wirtschaftskrise auch hier, viele haben ihre Arbeit verloren in der industriellen Mitte Kasachstans. Jedes zweite Auto ist ein Taxi.
Nach fünf Minuten rasanter Fahrt schlägt Schenja die Autotür zu und sagt: „Morgengymnastik. Neunte Etage, der Fahrstuhl geht nicht, seit 1992.“ „Nitschewo“, versuche ich zu blödeln, „ich brauche ein bisschen Training für die nächsten Bergtouren.“ Ein Treppenhaus á la Alfred Hitchcock. Schenja sagt nicht „Hier ist es aber dunkel“, sondern freut sich, dass auf jedem dritten Treppenabsatz ein Funzellicht brennt. In der Wohnung ist Nicole, sie macht verschlafen auf und verkrümelt sich sofort wieder ins Bett. Ich freue mich, dass ich ein Zimmer für mich habe und lasse mich ungewaschen auf das Bett fallen. Im Einschlafen registriere ich noch, dass ich eine Zeitreise mache. Ich liege auf meinem Internatsbett im Leningrad der achtziger Jahre, zwei Sperrholzplatten und dazwischen ein Stahlrohrgestell mit einer metallenen Hängematte. Mein Hinterteil hängt nur deswegen nicht bis zum Boden durch, weil ein findiger Mensch ein paar Bretter untergeschoben hat, die den Schlafkomfort etwas dämpfen und außerdem bei jeder Bewegung ein krachendes Geräusch verursachen.
Hausgemachte Reiserouten
Trotz der schlafarmen Nächte verläuft das Seminar während der nächsten drei Tage zur allgemeinen Zufriedenheit. Im Ecomuseum Karaganda haben sich ungefähr 25 Personen versammelt, die etwas über nachhaltigen Tourismus lernen und in Erfahrungsaustausch treten wollen. Dazu kommen noch 20 Studenten, die an der Universität Karaganda Tourismusmarketing studieren. Die Teilnehmer sind interessiert und diskutieren mit Begeisterung.
In den Pausen entwerfen wir in der Museumsküche Reiserouten durch das von Touristen bisher übersehene Gebiet Karaganda. Vitali und Sascha vom Ecomuseum haben eine leichte und eine schwere Radtour durch die Sary Arka ausgearbeitet. Bronzezeitliche Ausgrabungsstätten und unentdeckte Steppenberge stehen auf dem Programm, auf der Internationalen Tourismus-Börse (ITB) in Berlin wollen sie diese Reisen vorstellen. Sajat aus Balchasch erzählt uns von den Sommerweiden der Kamelzüchter und den Fischgründen am Nordufer des Balchasch-Sees. Viele Einwohner von Balchasch würden ihre Datschen vermieten, und ob das nicht eine gute Idee für die Sommerfrische der smoggeplagten Einwohner Almatys wäre. Dann wäre da noch das Sanatorium am Ufer des Sees, wo man für 50.000 Tenge drei Wochen Urlaub machen kann. Und nicht zuletzt gibt es da noch die Steppenoase von Karkaralinsk, ein wunderschönes Fleckchen Erde mit Felsen, Wäldern und Seen östlich von Karaganda. Nach dem Seminar wollen wir für zwei Tage hinfahren und die Gästehäuser unseres Ökozentrums begutachten. Jetzt, im Februar, erwartet uns hier aber vor allem viel Schnee.
„Die Polizei – Dein Freund und Helfer“
Abends gibt es im Wetterbericht Bu-ranwarnung. Ich mache mir Sorgen, denn die 200 Kilometer durch die offene Steppe nach Karkaralinsk sind besonders sturmgefährdet. Ich versuche Einspruch gegen die Reisepläne zu erheben, aber unsere Gastgeber winken cool ab, in solchen Autos wie den ihren würden wir jeden Buran überleben. Nichtsdestotrotz kaufen wir abends noch Proviant für einen ganzen Tag ein, für den Fall, dass wir im Schneesturm stecken bleiben.
Der Blick aus dem Fenster am nächsten Morgen beruhigt: Kein Buran über Karaganda, Sichtweite ungefähr 1.000 Meter – wir fahren los. Als wir den schützenden Windschatten der letzten Plattenbauten verlassen haben, trifft eine Böe unseren Jeep und reißt dem Fahrer fast das Lenkrad aus der Hand. Es heult und pfeift, das Auto ächzt. Über die Straße winden sich Schneeschlangen. Ich versuche zu meutern, werde aber ignoriert. Und dann passiert das Wunder. Hinter uns ertönt ein Jaulen, etwas Blaublinkendes huscht schemenhaft an uns vorbei und stellt sich dem Jeep in den Weg. Zwei Gestalten lösen sich von dem Umriss und nähern sich unserem Fahrzeug. Als sie direkt vor der Windschutzscheibe auftauchen, sehe ich erleichtert, dass es Uniformierte sind. Straßenpolizei. Die Trasse nach Karkaralinsk ist gesperrt, wegen Verwehungsgefahr. Man will vermeiden, dass Insassen von liegengebliebenen und verwehten Fahrzeugen nur noch tot geborgen werden können. Jedes Jahr gibt es Dutzende solcher Fälle. „Die Polizei – Dein Freund und Helfer“ – ich hatte mir angewöhnt, den Slogan in Kasachstan mit Zynismus zu denken. Heute würde ich den Uniformierten am liebsten um den Hals fallen.
Zwei Minuten Buran
Schade nur für die Leser der DAZ, sie müssen auf eine Beschreibung der Gästehäuser in Karkaralinsk verzichten und sich mit der Beteuerung zufrieden geben, dass eine Reise dorthin nicht nur wegen der Landschaft lohnt, sondern auch wegen des Städtchens selbst, wo man ein weitgehend intaktes Ensemble alter russischer Kaufmannshäuser besichtigen kann und eine Moschee, die Abais Vater Kunanbai in der Mitte des 19. Jahrhunderts gestiftet hat.
Wer Ruhe sucht, sollte die Sommerferien meiden – dann nämlich platzt Karkaralinsk förmlich aus allen Nähten vor Urlaubern. Im Mai und September ist es hier erholsam, und eigentlich auch im Winter, wenn man denn ohne Buran herkommt Ach ja, der Buran. 15 Jahre bin ich nun schon in Kasachstan, aber das hier ist mein erster! Wenn wir schon zurück müssen, wollen wir ihn wenigstens live erleben. Ich versuche, die Autotür zu öffnen. Sie wird mir fast aus der Hand gerissen. Vorsichtig schälen wir uns aus dem Auto. Wir stemmen uns gegen den Sturm. Er rüttelt an uns, haut uns fast um. Wir fotografieren uns gegenseitig, sofern das bei einer Sichtweite von zehn Metern möglich ist und flüchten wieder ins warme Auto. Unser Intermezzo an der „frischen Luft“ hat keine zwei Minuten gedauert. Wir fahren zurück nach Karaganda. Karkaralinsk wartet bis September.
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Zentrale des Zentrums für Ökotourismus: Ecotourism Information Ressource Center, Almaty, Scheltoksan-Str. 71 / Ecke Gogol-Str., Tel.: +7 (727) 2 78 02 89, Fax: +7 (727) 2 79 81 46, e-mail: ecotourism.kz@mail.kz, web-site: www.eco-tourism.kz
Öffnungszeiten: Mo-Fr 09.00 – 18.00 Uhr
Dagmar Schreiber unterstützt hier im Auftrag des deutschen Centrums für internationale Migration und Entwicklung (CIM) den Aufbau von Ökotourismus-Angeboten.
Anreise aus Almaty: Mit dem Flugzeug oder Zug nach Karaganda, von hier mit dem Bus oder der Marschrutka nach Karkaralinsk.
Allgemeine Reiseinformationen: Ende Oktober 2008 ist die 3. Auflage von Dagmar Schreibers Reiseführer „Kasachstan entdecken“ erschienen.
Von Dagmar Schreiber
27/03/09