Michael Wildenhain erzählt in „Russisch Brot“ eine schmutzig graue Geschichte über die Liebe, den Krieg und die Tristesse der geteilten deutschen Nachkriegsgesellschaft
Die Welt, in der Joachim Rößler aufwachsen muss, ist eher schmutzig grau denn sepia. Es ist zwar auch eine Welt, in der es Paternoster und tragbare Plattenspieler gibt und in der es nach Mottenpulver und Muckefuck riecht – es ist vor allem aber eine, in der man in Bunkerruinen spielt, in der man sich für jeden Besuch im Osten nach Passierscheinen anstellen muss und in der man die Schrapnellsplitter sammelt, die aus dem Rücken des Vaters kommen. Bleiern fühlt sich alles an, fast jeder ist noch immer wie gelähmt vom Krieg – und das, obwohl er schon fast zwanzig Jahre vorbei ist.
„Russisch Brot“, der neue Roman des Berliner Autors Michael Wildenhain, erzählt die Geschichte des Jungen Joachim Rößler, der eines Tages, beim Besuch des Großvaters in Ostberlin, ein großes Geheimnis entdeckt. Noch ist er zu jung, doch später, als der Vater an den Folgen seiner Kriegsverletzungen gestorben ist, begibt er sich auf Spurensuche und packt nach und nach die Vergangenheit aus: eine große Liebesgeschichte zwischen seiner Mutter und ihrem Adoptivbruder – wie sie im Krieg zusammen aufwuchsen, aufs Land verschickt wurden und flüchten mussten, wie sie sich später wiedersahen und doch nicht zusammenfinden konnten, weil schon die Mauer stand.
Mit dieser dramatischen Familiengeschichte legt Michael Wildenhain, der früher mal ein Star der Social-Beat-Szene war und wegen seiner Hausbesetzerromane auch ein Held westdeutscher Teenagerfantasien vom wilden, freien Berlin, ziemlich tiefschürfend nach. Endlich hat er ein neues Thema gefunden und macht jetzt in Vergangenheitsbewältigung. Damit begibt er sich in die Gesellschaft sehr vieler jüngerer deutscher Autoren und Autorinnen von Tanja Dückers über Olaf Müller bis hin zu Dagmar Leupold, denen das Hier und Jetzt zu langweilig geworden ist. Andererseits ist der Ende Vierzigjährige etwas älter und kann sich so auf Näheres, von den Großeltern auf die Eltern, verlegen. Außerdem konzentriert sich Michael Wildenhain nicht nur auf die Geschichten der Älteren, er hält sich auch nicht zurück mit eigenen Erinnerungen ans Berlin der Sechzigerjahre.
Das hat schon seinen Reiz. Als Leser erfährt man aus der kindlichen Froschperspektive, die noch die winzigsten Alltagsbegebenheiten fokussiert, viel über ein Berlin, das man heute nur noch selten spürt. Es wird einem klar, wie unendlich lange der Krieg noch in die Gegenwart ragte. Trotzdem muss gewarnt werden: Wildenhains Prosa ist trotz ihrer Lust auf Sinnlichkeit bar jeder Sprachmelodie. Ein Relativsatz wird da in den nächsten gejagt, es wimmelt vor Gedankenstrichen und gestelzten Gerundien, manche Schachtelsätze schleppen sich über ganze Absätze. Und nicht nur Michael Wildenhains Stil wirkt konstruiert, auch seine Erzählhaltung kippt manchmal ins Gekünstelte. Durch die Perspektive des Kindes, dem sich die Dinge nur langsam und mühevoll zusammensetzen, entsteht auch eine Art Milchglaseffekt, der Spannung und Verfremdung erzeugen will, aber doch nur Ungeduld schafft, und der am Schluss, als das Geheimnis endlich gelüftet wird, ganz fraglich wird: Bis dahin erscheinen die Figuren in „Russisch Brot“, die Mutter, die Cousine, der Vater, der Opa, verschwommen und unbelebt, man kommt keiner besonders nah und denkt sogar streckenweise, das sei ganz richtig so.
Doch dann werden eines Tages Mutter und Sohn auf dem Heimweg von Ost- nach Westberlin an der Grenze festgehalten und in zwei angrenzenden Kabinen verhört. Als die Grenzpolizisten die beiden allein lassen, nimmt die Mutter die schützende Wand zwischen den Kabinen zum Anlass und kommt endlich ins Erzählen.
Ziemlich unwahrscheinlich, diese Episode – und trotzdem macht sie deutlich: Es ist gar nicht die Geschichte der durchschnittlichen Berliner Göre, die an „Russisch Brot“ so interessiert. Es ist die der Mutter, die einen das ganze Buch hindurch bei der Stange gehalten hat – und die Geschichte einer Liebe, die gleichfalls vom Krieg und von der Tristesse der geteilten deutschen Nachkriegsgesellschaft erzählt.
Michael Wildenhain: „Russisch Brot“. Klett-Cotta, Stuttgart 2005, 271 Seiten, 18,50 Euro