Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge betonte in seinem Forschungsbericht von 2013, dass sich Spätaussiedler in kurzer Zeit in Deutschland gut integrieren können. Außerdem seien sie ein Gewinn für Deutschland, und das Bemühen um ihre Ansiedlung sowie Integration wäre eine Investition in die Zukunft Deutschlands. Seit 1950 haben etwa fünf Millionen Menschen als Spätaussiedler in Deutschland ihre alte neue Heimat gefunden. Zu dieser Gruppe gehört auch Heinrich Jakunins Familie aus Turkmenistan.
Als Heinrich Jakunins Familie nach Deutschland kam, war er noch sehr jung. 20 Jahre später studiert er Slawistik in Leipzig und arbeitet nebenbei noch als Journalist bei dem ersten Universitätsradiosender Deutschlands „Mephisto 97.6“. An Turkmenistan, sein Geburtsheimatland, kann er sich kaum noch entsinnen und ist sich sicher, dass er dorthin nie wieder zurückkehrt. Im Gespräch mit der DAZ erzählt er seine Familiengeschichte.
Nie wieder zurück
„Ich kann mich an Turkmenistan nicht mehr erinnern, ich war sehr jung als wir nach Deutschland gekommen sind. Als wir 1995 herkamen, war ich etwa zweieinhalb Jahre alt.
Was ich jetzt über Turkmenistan weiß, stammt allein aus den Erzählungen meiner Eltern oder Verwandten oder aus dem Internet. Meine Eltern erzählen mir natürlich, wie es früher dort war, in der Sowjetunion, wenn wir uns zum Beispiel alte Familienfotos anschauen, auf denen meine Eltern vor zentralasiatischen Wandteppichen sitzen und Tee trinken. Oder wenn meine Mutter mir davon erzählt, wie sie früher vom Sommer bis zum Winter immer Baumwolle pflücken musste. Aus diesen Erzählungen heraus habe ich mir in erster Linie Turkmenistan als Teil der Sowjetunion vorgestellt und nicht als das Land, das es heute ist.
Wenn ich mir jetzt Dokumentationen darüber anschaue, was jetzt aus Turkmenistan geworden ist, bin ich heilfroh, dass meine Familie nach Deutschland ausgewandert ist.
Wenn ich zum Beispiel die Geschichten vom Turkmenbaschi höre, frage ich mich, wie ein ganzes Land auf der Idiotie eines solchen Menschen aufgebaut sein konnte. Als jemand, der eigentlich sein ganzes Leben lang in einem demokratischen Land aufwachsen durfte, kann ich mir nicht vorstellen, wie das ist, in so einer Diktatur zu leben, die ja auch unter dem zweiten turkmenischen Präsidenten anscheinend nicht besser geworden ist.
Ich habe mir einmal das Universitätsjahrbuch meiner Mutter angeschaut, wo all die Fotos der Leute drin waren, mit denen sie zusammen studiert hat. Meine Mutter hat Medizin studiert und arbeitet immer noch als Ärztin. In diesem Jahrbuch ist auch ein Bild des jetzigen Präsidenten Turkmenistans, Gurbanguly Berdymuchamedow drin. Die beiden haben sich natürlich nicht gekannt, aber es ist auf jeden Fall interessant, wenn ich mir überlege, wen von den beiden es jetzt wohl besser getroffen hat.
Meine Abstammung ist mir ziemlich wichtig. Es ist sehr schade, dass so wenig Menschen in Deutschland von der Geschichte unserer Leute etwas wissen. Damit meine ich die Wolgadeutschen, Bessarabien-, die Russlanddeutschen und wie sie alle noch heißen. Meine Familie gehört zu der ersten Gruppe, den Wolgadeutschen, die sich im 18. Jahrhundert in der Region um die russische Wolgastadt Saratow niedergelassen haben.
Televisor statt Fernsehen
Ich glaube, meine Vorfahren kamen aus Süddeutschland, wahrscheinlich aus Schwaben, weil meine Familie katholisch ist und die Alten in meiner Familie eine Mundart sprechen, die sich ein bisschen wie Schwäbisch anhört, aber halt ein 200 Jahre altes Schwäbisch. Wenn mein Opa zum Beispiel irgendein neueres Wort nicht auf Deutsch gewusst hat, so z. B. Fernseher, hat er stattdessen einfach das russische Wort „Televisor“ benutzt.
Interessanterweise fiel es mir auch immer etwas schwer, meinen Opa zu verstehen, wenn er Deutsch redete, eben weil ich nun mal modernes Deutsch gelernt hatte und er eine so besondere Sprache sprach. Die meisten meiner Verwandten haben Deutsch aber nie gelernt. Für die Generation meiner Eltern war Deutsch bloß eine Sprache, die sie in der Schule vielleicht mal ein bisschen lernten, oder beim Beten benutzten wie mein Vater. Der Alltag in der Sowjetunion funktionierte nun mal auf Russisch und meiner Familie war es wahrscheinlich recht, nicht zu stark als Deutsche aufzufallen nach allem, was ihnen während der Herrschaft Stalins widerfahren war
Stalinzeit in Kasachstan
1941 wurden alle Sowjetdeutschen aus ihren Siedlungsgebieten nach Sibirien und Zentralasien deportiert. Mein Großvater war damals mit 16 Jahren in einem kasachischen Aul gelandet, wo er zusammen mit anderen deportierten Deutschen unter ärmlichsten Bedingungen leben musste. Irgendwie hat er nach einer Zeit dort herausgefunden, wohin seine Eltern gebracht wurden. Er fand heraus, dass seine Mutter im Sterben lag und fasste dann den Entschluss, den Aul zu verlassen, um seine Mutter noch einmal zu sehen.
Unterwegs wurde er allerdings von den Behörden aufgegriffen, weil es den Deutschen nicht erlaubt war, ohne Genehmigung ihre Dörfer zu verlassen. Zur Strafe wurde mein Opa dann in ein Arbeitslager gesteckt. Dort wurde er immer wieder verhört, was dann so aussah, dass sie meinem Opa einen „Vertrag“ hingelegt haben und gesagt haben, er soll das jetzt bitte unterschreiben. Als er sich weigerte, schlugen sie ihn mit den Griffen ihrer Pistolen. Meine Mutter hat mir einmal erzählt, dass er da nur wieder rausgekommen ist, weil ihm ein jüdischer Zellengenosse geraten hatte, nichts zu unterschreiben, was man ihm vorlegte. Einige Zeit später hatte er es dann geschafft, aus dem Lager zu fliehen, woraufhin er dann wieder zurück in sein Dorf in Kasachstan kam.
Nach dem Tod Stalins wurde es allmählich besser für meine Familie. Einem Teil von ihr zahlte man sogar einige Rubel als Wiedergutmachung aus. Zurückkehren in ihre alten Siedlungen und Häuser durften die Russlanddeutschen aber nicht. Meine Familie hat sich dann schließlich in Aschchabad in Turkmenistan niedergelassen, weil dort die Aussichten, eine gute Arbeit zu finden damals wohl recht gut waren. Mein Opa wurde Kaufmann und meine Mutter studierte Medizin und ist später Ärztin geworden.
Russe oder Deutscher?
Als wir nach Deutschland kamen, hatten wir es die erste Zeit relativ schwer. Viele der Abschlüsse, die meine Mutter in der Sowjetunion gemacht hat, wurden ihr in Deutschland nicht anerkannt. Deshalb hat sie auch recht schlecht verdient, bis sie alle ihre Abschlüsse hier nachgeholt hatte. Mittlerweile leben wir hier aber ganz gut. Meine Eltern verdienen gutes Geld und wir haben ein eigenes Haus. Sowohl mein Bruder als auch ich besuchen die Universität und führen ein gutes Leben.
Mit dem Älterwerden habe ich mir aber immer häufiger die Frage gestellt, wer genau ich denn sei – Russe oder Deutscher. In der Sowjetunion sind die Russlanddeutschen für alle „die Deutschen“ gewesen, obwohl die meisten von ihnen gar nicht mehr deutsch gesprochen haben. Als sie aber nach Deutschland kamen, waren sie hier für alle „die Russen“. Auch meine Freunde oder Kollegen nennen mich eher im Scherz einen Russen, wenn ich etwa mit meiner Mutter auf Russisch telefoniere. Für mich ist es aber auf jeden Fall klar, dass ich in Deutschland lebe, hier aufgewachsen bin und mich mit der deutschen Kultur identifiziere.“