Der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, ruft zu einem entschiedenen Eintreten für die freiheitliche Demokratie in Deutschland auf. Er habe den Eindruck, dass die „fundamentalen Wertentscheidungen des Grundgesetzes für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, den Schutz von Grundrechten heute etwas stärker angegriffen werden als in früheren Jahrzehnten“, sagte Harbarth in einem Gespräch mit der Wochenzeitung „Das Parlament“. Wir übernehmen das Interview mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Herr Vizepräsident, nach neun Jahren im Bundestag sind Sie im vergangenen Herbst an das Bundesverfassungsgericht gewechselt. Hat das Ihren Blick auf die Politik geändert?

Wenn man eine politische Aufgabe wahrnimmt, wird man viel stärker durch Tagesaktualitäten beansprucht, als wenn man die Politik aus der Ferne betrachtet. Insofern ist mein Blick heute ein Blick aus der Ferne, der eher die großen Linien der politischen Entwicklung wahrnimmt als die Tagesaktualitäten, die das Leben eines Abgeordneten stark prägen. Der politische Betrieb ist immer sehr krisengeprägt:

Es kommen viele Themen auf den Tisch, die unter großem Zeitdruck entschieden werden müssen. Das ist ein großer Unterschied zu den richterlichen Aufgaben in Karlsruhe, bei denen man das Privileg hat, über die Fragen, mit denen man befasst ist, trotz der Arbeitsfülle in der Regel ohne gravierenden Zeitdruck nachdenken zu können.

Und Ihr Blick auf das Grundgesetz – hat der sich geändert?

Mein Blick auf das Grundgesetz ist unverändert geblieben. Ich halte es insgesamt für eine vorzügliche Verfassung. Auch eine hervorragende Verfassung kann man freilich noch weiter verbessern. Aber sowohl aus der früheren Perspektive eines Bundestagsabgeordneten als auch aus der jetzigen Perspektive eines Verfassungsrichters können wir uns sehr glücklich schätzen, eine so gelungene Verfassung zu haben.

Sie sind nicht der erste Richter am Bundesverfassungsgericht, der aus der aktiven Politik kommt. Droht da nicht immer der Ruch der Befangenheit, wenn das Gericht über eine Gesetzesregelung befinden muss, an der man selbst zuvor als Abgeordneter mitgewirkt hat?

Das Bundesverfassungsgericht hat 16 Richterinnen und Richter. Für das Bundesverfassungsgericht ist die Vielfalt der Perspektiven sehr wichtig. Es wäre schlecht, wenn sich die Richterschaft ausschließlich aus einer bestimmten Berufsgruppe rekrutieren würde. Deshalb haben wir am Bundesverfassungsgericht seit jeher einen Mix an beruflicher Expertise. Unter den Verfassungsrichtern finden sich zum Beispiel Hochschullehrer und Berufsrichter. Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten auch immer wieder gute Erfahrungen gesammelt mit Politikern, die am Bundesverfassungsgericht ihre politische Erfahrung in die Perspektive des Gerichts einbringen. Ich bin der Überzeugung, dass es für das Bundesverfassungsgericht gut ist, wenn ihm auch Politiker angehören.

Sie werteten es einmal als Gewinn für das Gericht, dass ihm mit Ihnen erstmals seit 2005 wieder ein Rechtsanwalt angehört. Was macht diesen Gewinn aus?

Das Bundesverfassungsgericht ist ein Bürgergericht: ein Gericht, das den Bürger vor der Verletzung seiner Grundrechte durch die öffentliche Hand schützen soll. Vermutlich kein juristischer Beruf kann die Perspektive des Rechtschutzsuchenden so gut nachvollziehen wie der Anwaltsberuf. Die Sorgen der Rechtschutzsuchenden aufzunehmen und juristisch einzuordnen, sie zu vertreten und auf dem unter Umständen mühsamen Wege der Rechtsschutzsuche zu begleiten, ist die tägliche Arbeit der Anwaltschaft.

Immer wieder ist zu hören, das Bundesverfassungsgericht betätige sich als politischer Akteur – zu Recht?

Wäre ihm dieser Vorwurf nie gemacht worden, hätte es seine Aufgabe verfehlt. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet nicht nach politischen Maßstäben, sondern nach rechtlichen, aber es entscheidet häufig Fälle, die auch eine politische Dimension haben. Wenn das Bundesverfassungsgericht in jedem Fall, der eine politische Dimension hat, den Bürgern Rechtsschutz verweigern würde, würde es die Funktion, die ihm das Grundgesetz zugedacht hat, eklatant verfehlen.

Nicht nur anlässlich des 70. Geburtstages des Grundgesetzes ist viel von dessen Werten die Rede. Was sind für Sie die „Werte des Grundgesetzes“?

Das Grundgesetz hat in besonderer Weise das Individuum im Blick. Bereits im Rahmen des Herrenchiemsee-Konvents wurde der Gedanke formuliert, dass der Staat dem Menschen und nicht der Mensch dem Staat zu dienen habe. Aus diesem Grund wurde an die Spitze des Grundgesetzes der Grundrechtskatalog gestellt, eingeleitet durch die zentrale Verankerung der Unantastbarkeit der Menschenwürde. Das Grundgesetz ist von Anfang an eine Werteordnung gewesen. Das Bundesverfassungsgericht hat schon in den 1950er Jahren entschieden, dass das Grundgesetz nicht wertneutral ist, sondern dass es bestimmte Werte der Gesellschaft verankert: etwa Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit. Und das Grundgesetz kennt Werte, die sogar dem verfassungsändernden Gesetzgeber entzogen sind: zum Beispiel Sozialstaatlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.

Das Grundgesetz definiert Grenzen und Pflichten staatlichen Handelns. Es wendet sich dabei aber doch nicht nur an den Staat?

Das Grundgesetz wendet sich nicht nur an den Staat, sondern setzt auch eine Werteordnung im Verhältnis zwischen Privaten. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung immer wieder klargemacht, dass das Grundgesetz eine Werteordnung setzt, die auch auf die Rechtsbeziehungen der Bürger untereinander ausstrahlt. So regelt das Grundgesetz auch Werte im Verhältnis zwischen Individuen.

Das Grundgesetz erfreut sich breiter Akzeptanz in der Gesellschaft. Gilt das für die in ihm definierten Werte auch so uneingeschränkt?

Das Grundgesetz hat in der Tat eine ganz bemerkenswerte gesellschaftliche Akzeptanz. Ich habe den Eindruck, dass diese fundamentalen Wertentscheidungen des Grundgesetzes für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, den Schutz von Grundrechten heute etwas stärker angegriffen werden als in früheren Jahrzehnten, aber ich bin überzeugt, dass die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung ebenso uneingeschränkt hinter diesen Prinzipien steht wie in der Vergangenheit.

Macht es Ihnen Sorge, dass diese Werte stärker angegriffen werden?

Es muss jedem Sorge bereiten, wenn Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Schutz von Grundrechten heute von Teilen der Bevölkerung stärker hinterfragt, teilweise auch bekämpft werden. Wir leben in einer Zeit, in der global betrachtet autoritäre Herrschaftssysteme eine erhebliche Anziehungskraft entfalten – insofern ist die jetzige Zeit eine besondere Bewährungsprobe für die freiheitliche Demokratie. Das verlangt von allen Akteuren einen außergewöhnlichen Einsatz bei ihrer Verteidigung.

Wer ist da gefordert?

Jeder Einzelne ist aufgefordert, in seiner Sphäre für die freiheitliche Demokratie zu werben, und denen, die versuchen, sie verächtlich zu machen, sie zu beschädigen und zu beseitigen, couragiert entgegenzutreten.

1990 gab es im Zuge der Wiedervereinigung Anläufe, eine gesamtdeutsche Verfassung zu erarbeiten und zur Abstimmung zu stellen. Wäre das wünschenswert gewesen?

Das Grundgesetz hat sich in den 40 Jahren bis zur Wiedervereinigung eine herausragende gesellschaftliche Akzeptanz erworben. Deshalb kann ich gut nachvollziehen, dass man damals die Ablösung des Grundgesetzes durch eine andere Verfassung zwar diskutiert, im Ergebnis aber verworfen hat. Man hat auch aus geschichtlichen Erfahrungen heraus gesagt: Das Grundgesetz hat sich 40 Jahre hervorragend bewährt; wir wollen nicht riskieren, eines Tages mit einer eventuell schlechteren Verfassung aufzuwachen. Denn Verfassungen können auch scheitern.

Es war die frei gewählte DDR-Volkskammer, die den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes beschloss…

Dass die Volkskammer im Sommer 1990 mit überwältigender Mehrheit den Beitritt zum Grundgesetz beschlossen hat, spricht Bände in puncto gesellschaftlicher Akzeptanz des Grundgesetzes, die auch in die neuen Länder ausgestrahlt hat.

Nicht nur das Grundgesetz feiert 2019 ein rundes Jubiläum: Die Weimarer Verfassung wurde vor 100 Jahren beschlossen, die Paulskirchenverfassung vor 170 Jahren. Steht das Grundgesetz zu ihnen in einer Kontinuität?

Das Grundgesetz greift Elemente dieser Vorgängerverfassungen auf, aber unterscheidet sich in wichtigen Punkten. Die Paulskirchenverfassung etwa war die Verfassung einer konstitutionellen Monarchie, aber es gibt dennoch Anknüpfungspunkte, etwa einen Katalog von Grundrechten oder die Zuständigkeit eines direkt gewählten Parlaments einerseits und einer Länderkammer andererseits für die Gesetzgebung, ein Strukturelement, das alle deutschen Verfassungen bis zum Grundgesetz durchzieht. Insofern konnte das Grundgesetz auch Ideen der Paulskirchenverfassung aufgreifen, so wie es natürlich auch viele Ideen der Weimarer Reichsverfassung aufgegriffen hat. Das beginnt mit der Staatsform der Republik und setzt sich mit dem Grundrechtekatalog fort.

Und die Unterschiede?

Das Grundgesetz hat bestimmte Fragen anders entschieden als die Weimarer Reichsverfassung. So ist etwa die Stellung des Staatsoberhaupts deutlich schwächer als in der Weimarer Verfassung, in der nach dem Ende der Monarchie mit dem Reichspräsidenten eine Art Ersatzmonarch mit sehr starken Befugnissen geschaffen wurde. Das Grundgesetz versucht auch, mit der Konzeption der wehrhaften Demokratie zu verhindern, dass die Bundesrepublik in ähnlicher Weise scheitern könnte wie Weimar.

Das sind die viel zitierten „Lehren der Vergangenheit“ – was ist die wichtigste?

Die ganz große Lehre des Grundgesetzes nach der Barbarei des Dritten Reichs ist, den Staat vom Individuum aus zu denken mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde an der Spitze unserer Verfassung. Das Bewusstsein, dass der Staat dem Menschen zu dienen hat und nicht der Mensch dem Staat und dass der Kern der Verfassung nicht einmal vom verfassungsändernden Gesetzgeber verändert werden kann, halte ich für das Beeindruckendste am Grundgesetz. Das Grundgesetz hat eine Reihe von Konsequenzen aus Weimar gezogen. Besonders wichtig ist dabei die Idee der wehrhaften Demokratie.

Das Grundgesetz wird oft für seine klare Sprache gelobt. Für manche Verfassungsänderungen kann das aber kaum gelten. Gefährdet das Bestreben, manchen Regelungen Verfassungsrang zu geben, die Verständlichkeit der Verfassung?

Wir haben in der Geschichte des Grundgesetzes 63 Verfassungsänderungen erlebt. Dadurch ist der Umfang des Grundgesetzes deutlich angewachsen. Und sicherlich gibt es viele Verfassungsänderungen, die in politisch nachvollziehbarer Weise versuchen, Vorgänge in großer Ausführlichkeit in der Verfassung zu regeln, die aber vermutlich besser der Ebene des einfachen Rechts vorbehalten blieben. Dabei geht es aus meiner Sicht nicht in erster Linie um die Verständlichkeit des Grundgesetzes.

Sondern?

Verständlichkeit ist wichtig, aber wichtig ist auch, dass man sich den Unterschied zwischen einem einfachen Gesetz und einer Verfassungsnorm verdeutlicht, die nur mit Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat geändert werden kann. Werden Regelungen ins Grundgesetz geschrieben, die auch im einfachen Recht verankert sein könnten, verengt sich zunächst einmal der demokratische Diskurs. Denn über viele Grundgesetzregelungen diskutiert die demokratische Gesellschaft nicht mehr.

Sehen Sie weitere Folgen?

Wir leben in einer Welt, die sich unglaublich dynamisch verändert. Es können nur Länder bestehen, die selbst wandlungsfähig sind. Deshalb sehe ich es mit einer gewissen Sorge, wenn man sich diese Flexibilität dadurch nimmt, dass man allzu viele Anpassungen künftig nur mit Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat erreichen kann. Das macht die Organisation eines Staates schwerfälliger und die Bewältigung der Zukunftsherausforderungen nicht einfacher.

Das Gespräch führte Helmut Stoltenberg für die Wochenzeitung „Das Parlament“.

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