Wenn den Almatinern das unruhige Getümmel ihrer pulsierenden Millionenmetropole zu viel wird, fliehen sie gern in die nahegelegenen Berge. 15 Kilometer sind es nach Medeu, Ausgangspunkt für beliebte Wandertouren und Tor zum Skigebiet Schymbulak. Doch wer wirklich Einkehr in der Stille der Natur finden will, muss dorthin, wo die Luft dünner wird – etwa an den Gebirgssee Manschuk in 3500 Metern Höhe.

Wenn drei Gleitzeit-verwöhnte Wanderfreunde sich morgens um zehn zu einer Bergtour verabreden und um elf abfahren, dann zeigt sich: Unsere „deutsche Pünktlichkeit“ hat bereits unter der almatinischen Gelassenheit gelitten. Dabei haben wir große Pläne, als wir uns an einem sonnengetränkten Wochenendtag auf dem Parkplatz vor der Redaktion treffen. Wir wollen hoch hinaus – höher als es daheim möglich ist, wo der höchste Berg „nur“ 2962 Meter misst. 3000 und mehr sollten es schon sein, bevor unser zentralasiatisches Abenteuer im Winter endet. Die schneebedeckten Gipfel mahnen uns zur Eile: Ein paar Wochen noch, dann könnte es ungemütlich werden.

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Ungemütlich wird es auch am Eisstadion von Medeu, wo unsere erste Fahrt des Tages in ein großes Gedränge übergeht. Weil momentan die Gondeln der Seilbahn Richtung Schymbulak für die Skisaison auf Vordermann gebracht werden, wartet eine viel zu große Menschenmenge ungeduldig auf die nächste vollgestopfte Marschrutka. Zu viel Rummel für uns: Wir beschließen, uns für fünf Euro eines der wenigen Geländetaxen zu teilen, um zum Ausgangspunkt unserer Tour zu kommen: dem Hotel „Worota Tujuk-Su“ (Tor zum Tujuk-Su). Der Fahrer, ein grimmiger, wortkarger Ranger-Typ mit Cowboy-Hut, treibt seine Maschine über steile Schotterpisten und verjagt Selfie-Touristen mit lautem Hupen von der Strecke. Als er für den letzten halben Kilometer den Allradmodus anschmeißen will, winken wir ab und gehen den Rest zu Fuß.

Oberhalb von 2500 Metern ändert sich auch das Publikum

An dem stillgelegten Hotel ergreift uns Euphorie. Wir genießen die klare Sicht auf bizarre Felsformationen, während Sonnenstrahlen uns den Rücken wärmen und leises Glockengeläut aus dem Nirgendwo erklingt wie ein letztes Aufbäumen der Zivilisation. Hier, auf 2650 Metern Höhe, spüren wir auch zum ersten Mal: Der Sauerstoff in den Lungen wird weniger, obwohl wir tiefer einatmen. Wir zeigen uns unbeeindruckt und wandern nach einem Schluck Tee voller Tatendrang unserem Ziel entgegen – den weißen Bergspitzen im Süden, die sich kontrastreich dem tiefblauen Himmel entgegenstellen.

Mit zunehmender Höhe wird die Umgebung karger. Wir überschreiten die Baumgrenze und lassen die leuchtende Herbstkulisse hinter uns, die uns bis dahin mit ihrem Farbenreichtum entzückt hat. An ihre Stelle tritt eine kantig-schroffe Landschaft links und rechts der Schotterpiste, die zu einem Schutzwall gegen Schlammlawinen führt. Mit der Kulisse verändert sich auch das Publikum: Stramme Wanderschuhe und Trekkingstöcke statt Crop-Tops und Sneaker, Schnaufen statt Popcharts aus Handy-Lautsprechern und handgroßen Musikboxen. „Zdrawstwuj“, keucht man sich gegenseitig zu.

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„Wy iz Germanii?“, ruft uns ein großgewachsener Bursche Mitte 20 zu. Als man schnaufend ins Gespräch kommt, gibt er sich als Guide einer Gruppe Erstsemester der Satpajew-Universität zu erkennen. Die meisten von ihnen sind Mädchen vom Kaspischen Meer. „Denen geht es mit den Bergen so wie euch“, scherzt der Große. Nach ein paar Metern machen wir mit der Gruppe Rast an einem imposanten Felsen – das perfekte Motiv für ein Gruppenfoto mit der himmelblauen kasachischen Nationalflagge, die der Guide für den passenden Moment im Rucksack verstaut hat. Man beschenkt sich gegenseitig mit Fladenbrot, Gebäck und Obst, wünscht sich viel Glück, dann geht es auf die letzte Etappe.

Schwindel, Kopfweh und Tunnelblick

Knapp oberhalb des Schutzwalls sind es nun schon mehr als 3000 Höhenmeter. Leichter Schwindel, ein wenig Kopfweh, Tunnelblick, dazu die drückende Schwüle, die über dem immer weniger trittfesten Schotterpfad liegt: Die finalen Höhenmeter erlauben es nicht mehr, die Atemluft zum Reden zu vergeuden. Mit letzter Kraft schleppen wir uns über den Grat. Da eröffnet sich uns der Blick auf den türkisblauen Gletschersee – auf nunmehr 3500 Metern. Erst jetzt, wo das Gewässer am Ende eines Korridors zwischen zwei Felswänden vor uns liegt, wird uns bewusst, wie still es ringsum geworden ist. Mit vollen Händen schöpfen wir das kristallklare Wasser aus der Quelle, um uns zu erfrischen und unsere Trinkreserven aufzufüllen. Es ist so kalt, dass man die Füße nicht länger als eine Minute hineintauchen kann.

Der Gletschersee Manschuk.

Eigentlich hätten wir uns nun eine längere Pause verdient. Doch viel Zeit bleibt uns nicht, um unser karges Mahl aus trockenem Brot und Obst zu genießen – die Zeit ist so weit fortgeschritten, dass wir befürchten, es nicht bis zum Anbruch der Dunkelheit zurück zur Basis zu schaffen. Der schnelle Abstieg zehrt zunehmend die letzten Kraftreserven des Körpers auf. Während sich die herbstlich goldenen Bergkämme um uns in eine Leinwand für imposante Licht– und Schattenspiele verwandeln, verfallen wir in ein wahnwitziges Synchronstolpern. Jeder kleine Stein wird auf dem steilen Abstieg zu einer Herausforderung für die morschen Fußgelenke. Einzig die Vorstellung des bevorstehenden Abendmahls, das wir uns in den schillerndsten Farben ausmalen, überlagert die Müdigkeit. Beklemmend wirken zudem die vielen umgestürzten Baumstämme, die seit einem heftigen Sturm vor drei Jahren wie gigantische Mikadostäbe auf den Hängen liegen.

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Mit schmerzenden Knien erreichen wir schließlich die Stelle, von der wir am Mittag aufgebrochen sind. Leicht panisch müssen wir feststellen, dass um diese Uhrzeit kein Taxi mehr kommen wird, um uns abzuholen. Glücklicherweise schließen sich die letzten Rückkehrer im Tal solidarisch zu Fahrgemeinschaften zusammen. Auch wir freunden uns mit einer Abenteurerin an, die uns gern in die Stadt mitnimmt und unterwegs noch Empfehlungen für die nächsten Erlebnisziele gibt.

Am Ende haben wir uns selbst bewiesen, dass wir auch abseits des Schreibtischs zu Höchstleistungen im Stande sind. Das triumphale Gefühl am Ende des Tages weicht jedoch am nächsten Morgen einem fiesen Muskelkater.

Katharina Frick und Lukas Kunzmann

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Aufstieg zum Manschuk-See:

Mit dem Taxi fährt man von Almaty für rund 1800 Tenge (etwa vier Euro) bis zum Eisstadion Medeu. Von dort fährt ab Mitte Oktober regelmäßig eine Seilbahn zum Schymbulak, alternativ verkehren auch Marschrutkas und Geländetaxen (etwa 2500 Tenge bzw. 6 Euro). Vom Hotel „Worota Tujuk-Su“ folgt man den Wegweisern Richtung Tujuk-Su-Gletscher oder Manschuk-See. Hinter dem Schutzwall gegen Schlammlawinen trennt sich der Weg, man hält sich links auf dem schmalen Pfad, bis man den Gletschersee erreicht.

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