Wie verwandeln sich Menschen aus gutsituierten Verhältnissen in Mörder? Diese Frage ließ Andreas von Klewitz nicht mehr los, nachdem er für Dokumentarfilmproduktionen jahrelang Kriegsverbrecherprozesse aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt hatte. Sein Roman „Das Lied des Polyphem“, aus dem er Ende Februar im Goethe-Institut Almaty vorlas, stellt einen Versuch dar, sich der Psychologie eines willigen Vollstreckers und Massenmörders zu nähern.
/Bild: Christine Karmann. ‚„Das Lied des Polyphem“ und „Der Erzchinese“: Andreas von Klewitz präsentierte seine beiden Romane im Goethe-Institut Almaty’/
Andreas von Klewitz ist in Zagreb als Sohn eines deutschen Diplomaten aufgewachsen. Galt sein Interesse an der russischen Kultur und Literatur zunächst Puschkin und Lermontow, zog es ihn nach Abschluss seines Studiums der Slawistik sowie der Ost- und Südosteuropäischen Geschichte in Berlin in eine andere Richtung. Als Übersetzer sowjetischer Kriegsverbrecherprozesse bei einem Dokumentarfilmunternehmen drohte er bei der Frage nach der menschlichen Schuld zu verzweifeln.
„Ich erinnere mich an einen Opernsänger, der in den 30er Jahren mit Schuberts Winterreise auf Tour gegangen ist und später einem Erschießungskommando vorstand. Oder einen Priester, der auf die Frage, warum ihn seine christliche Ethik nicht davon angehalten hat, sich der NS-Vernichtungsmaschinerie anzuschließen, antwortete, dass sei wie Perlen vor die Säue werfen“, sagte Andreas von Klewitz.
Das Lied des Polyphem
Besonders die Frage, warum Menschen aus gutbürgerlichen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Verhältnissen zu willigen Vollstreckern geworden sind, ließ den Berliner Autor, Journalisten und Übersetzer nach den menschlichen Abgründen forschen. In seinem ersten, im Herbst 2004 veröffentlichten Roman „Das Lied des Polyphem“ erzählt er von einem jungen Mann mit musischer Begabung, der gänzlich unpolitisch, mehr oder weniger zufällig zur SS kommt.
„Der Roman ist fiktiv, dennoch habe ich viele Aussagen von Personen, die es wirklich gegeben hat, verfälscht und in dem Roman verarbeitet“, sagte Andreas von Klewitz. Die Hauptperson des Romans, Harald Gerneweg, schließt sich nach zwei verpatzten Aufnahmeprüfungen an der Kunsthochschule der SS an. Im „Partisanenkampf“ gegen unschuldige Zivilisten lässt er am Erschießungsgraben Zigaretten für die Nerven verteilen und seinen Hund abführen, der immer in den Graben springt, um den Leuten das Blut vom Gesicht zu lecken.
Schicksalhaft verkettet mit der Hauptperson ist die Jüdin Anna. Sie, die einmal Harald Gernewegs erste Schwärmerei war, steht dem Massenmörder Gerneweg am Erschießungsgraben gegenüber und sagt vor einem sowjetischen Militärgericht als Hauptbelastungszeugin gegen ihre einstige Jugendliebe aus. Trotz historischer Detailgenauigkeit versteht Andreas von Klewitz seinen Roman nicht als Lehrbuch, sondern als Psychogramm eines Mörders. „Nazideutschland dient als Kulisse des Romans. Es hat in der Geschichte immer wieder Systeme gegeben, in denen Menschen ihre Mitmenschen umgebracht haben“, sagte Andreas von Klewitz.
„Das Lied des Polyphem aus der Oper „Acis und Galatea“ von Georg Friedrich Händel singt Harald Gerneweg bei seiner Aufnahmeprüfung und besiegelt damit sein Schicksal, denn Polyphem war der einäugige Riese und Menschenfresser aus der griechischen Mythologie, den Odysseus während seiner Heimkehr überlistet hat.“
Abgründe der menschlichen Natur
Es gibt immer wieder Hoffnung. Andreas von Klewitz vertraut auf Herzenswille und emotionale Intelligenz, die den Menschen vor Untaten schützen. „Ein starkes moralisches Gerüst macht das Überwinden humaner Grenzen schwieriger, nicht umsonst gab es viele christliche Widerstandskämpfer im Dritten Reich.“
Auf der anderen Seite bleiben auch viele Gegensätzlichkeiten nicht auflösbar. „Viele deutsche Familien kennen diese Widersprüche aus der eigenen Geschichte. Der Vater meiner Mutter war beispielsweise im Konzentrationslager, während sich ein Onkel meines Vaters im Krieg an der Ostfront im Einsatz war“, sagte Andreas von Klewitz. Berliner Schilderungen seiner Mutter hat er in den Roman mit aufgenommen.
Die Auseinandersetzung mit den Abgründen der menschlichen Natur ist Andreas von Klewitz nicht immer leicht gefallen. Hinzu kommt, dass es sehr schwer ist, Verleger von der Thematik zu überzeugen. „In Deutschland ist schnell konsumierbare Literatur gefragt“, sagte Andreas von Klewitz. Auch eine vollständige Übersetzung des Romans ins Russische, scheiterte bisher an der Finanzierung.
Reaktionen des Publikums
Obwohl viele Besucher der Lesung in der Bibliothek des Goethe-Instituts Almaty mit der deutschen Sprache vertraut waren, nutzten sie die Chance, die teilweise verschachtelten Sätze des Romans in der verteilten russischen Übersetzung mitzulesen. Die Zuhörer lobten Andreas von Klewitz besonders für seine lebendige deutsche Rede. Der Autor arbeitet auch als Sprecher und führt seine klare Rede auf seine klassische Gesangsausbildung zurück.
Andreas von Klewitz hat schon auf der Frankfurter Buchmesse, im Rahmen des Göttinger Literaturherbsts, im Goethe-Institut Minsk und im Club von Berlin gelesen. In Kasachstan ist er das erste Mal. Besonders spannend findet er die Reaktionen auf seinen Roman. „Oft gibt es Diskussionen gar nicht mit mir, sondern untereinander im Publikum. Die Kollektivschuldfrage wird gerne kontrovers diskutiert.“
Für seinen zweiten auch im Berliner Parthas Verlag veröffentlichten Roman „Der Erzchinese“ hat Andreas von Klewitz wieder ein historisches Thema gewählt, doch diesmal ist die Handlung im 18. Jahrhundert angesiedelt. Ein Schelmenroman über einen schlesischen Landedelmann, der mit seiner unschuldigen Weltsicht den preußischen König Friedrich Wilhelm II. beeindruckt. „Nach Abschluss eines Buches falle ich immer in ein tiefes Loch. Die Arbeit an Dokumentarfilmen hilft mit wieder hinaus“, sagte Andreas von Klewitz.
Die Filmproduktionsgesellschaft ist auf zeitgeschichtliche Themen des 20. Jahrhunderts spezialisiert. „Da gibt es auch friedlichere Sachen als den Zweiten Weltkrieg“, so Andreas von Klewitz. Sein Hauptthema der kollektiven Schuld lässt den Autor jedoch nicht mehr los. Im September des letzten Jahres hat er sich als Stipendiat des Hawthornden International Retreat for Writers nach Schottland zurückgezogen und ein neues Manuskript über die Verantwortung des Einzelnen geschrieben. „Nach der Arbeit ist es mir schwer gefallen, mich mit den anderen Stipendiaten zum fröhlichen Abendessen zu treffen. Mein Thema hat mich festgehalten“, sagte Andreas von Klewitz. Hat er die Antwort auf seine Frage, warum Menschen zu Mördern werden? „Es wird immer ein Versuch bleiben.“
Von Christine Karmann
26/02/10