2019 jährt sich die Gründung der ASSR der Wolgadeutschen zum 95. Mal. Aus diesem Anlass nimmt „Volk auf dem Weg“ in einer Beitragsserie verschiedene Aspekte der wolgadeutschen Kulturgeschichte, insbesondere in den Jahren von 1918 bis 1956, unter die Lupe. Wir übernehmen den Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde die sowjetische Politik gegen „verdächtige“ nationale Minderheiten noch radikaler. Im Klima der Spionage- und Verdächtigungshysterie erschienen die Deutschen in der Sowjetunion aufgrund ihrer sprachlichen und historischen Verwandtschaft mit Deutschland bereits vor dem deutsch-sowjetischen Krieg als verdächtig. „Deutscher“ und „Faschist“ beziehungsweise „Fritz“ galten zunehmend als Synonyme, was für die Wolgadeutschen fatale Folgen haben sollte.

Wolgadeutsche an der Front

Für die Wolgadeutschen gab es nach dem Überfall Deutschlands am 22. Juni 1941 für kurze Zeit zunächst keine grundsätzlichen Veränderungen. Auch unter der deutschen Bevölkerung in der Wolgarepublik herrschte patriotische Stimmung, die anfangs noch intensiv für propagandistische Ziele genutzt wurde. So fanden in den ersten Kriegswochen in der Wolgarepublik vermehrt antifaschistische Versammlungen statt, an denen fast die ganze erwachsene Bevölkerung teilnahm. Die Aufrufe und Appelle an die deutschen Wehrmachtssoldaten, Arbeiter und Bauern wurden in der Sowjetpresse veröffentlicht und in Flugblättern und Radiosendungen propagandistisch gegen Deutschland eingesetzt.

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Bereits in den ersten Monaten des deutsch-sowjetischen Krieges kämpften auch wolgadeutsche Soldaten an vorderster Front, vor allem diejenigen, die schon 1939/1940 zum Armeedienst eingezogen waren. Mehr als 33.500 Russlanddeutsche, hauptsächlich aus der Wolgarepublik, waren im Einsatz. Auch unter den höheren Rängen in allen Truppenteilen der Roten Armee und Seeflotte gab es hunderte Russlanddeutsche. In der Sowjetpresse wurde davon nicht berichtet. Die einzige Ausnahme blieb ein ganzseitiger Beitrag in der Zeitung „Komsomolskaja Prawda“ vom 24. August 1941 über den „Heldentod des wolgadeutschen Komsomolzen Heinrich Hoffmann“ aus dem Dorf Rosental der ASSRdWD, der sich den deutschen Truppen widersetzt hatte und vom Feind brutal ermordet wurde. In der Zeitung war das Komsomolmitgliedsbuch von Hoffmann abgebildet, das von einem Bajonett durchstochen und mit Blut überströmt war. Schwer verwundet, geriet Hoffmann „den faschistischen Henkern in die Hände. Die Mörder folterten den jungen Helden, jedoch keine Folter konnte seinen Mut brechen“.

In den ersten Kriegsmonaten (etwa bis Mitte August 1941) wurde in der Sowjetpresse noch ein Unterschied zwischen den „Deutschen, die die Sowjetunion überfallen hatten“ und den Deutschen in der Sowjetunion gemacht. Mit den schnellen Erfolgen der deutschen Wehrmacht an den sowjetischen Kriegsfronten veränderte sich die offizielle Haltung gegenüber den „eigenen“ Deutschen schnell zum Negativen.

Das bestrafte Volk

Alexander Wormsbecher: „Wir im Jahr 1941“ | Foto: Alexander Beck; Heimatmuseum Alexandrowka.

Am 30. August 1941 wurde der Erlass „Über die Umsiedlung der Deutschen, die in den Wolga-Rayons wohnen“ (vom 28. August 1941) in den Zeitungen „Nachrichten“ und „Bolschewik“ der Wolgarepublik veröffentlicht, unterzeichnet vom Staatsoberhaupt Michail Kalinin im Namen des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR. Der Erlass schob für die „Übersiedlung“ der Wolgadeutschen ihre vermeintliche Kollaboration mit dem Feind vor, die sich weder damals noch in den nachfolgenden Jahrzehnten bestätigt hatte. Darin wurde behauptet, dass es in der Wolgarepublik „Tausende und aber Tausende Diversanten und Spione“ gebe, die auf ein „aus Deutschland gegebenen Signal Explosionen in den von den Wolgadeutschen besiedelten Rayons auszuführen haben“. Infolgedessen sehe sich „die Sowjetregierung gezwungen, Strafmaßnahmen gegen die gesamtdeutsche Bevölkerung des Wolgagebiets zu ergreifen“.

Dazu schrieb Hugo Wormsbecher, Publizist und russlanddeutsche Autonomieaktivist, in seinem Beitrag „Die sowjetdeutschen Probleme und Hoffnungen“ („Heimatlichen Weiten“, 1/1988): Vom 22. Juni bis zum 10. August 1941 wurden in der Republik der Wolgadeutschen 145 Personen verhaftet, darunter zwei, denen man Spionage zur Last legte, die anderen hatte man hauptsächlich wegen ihrer schwarzseherischen Äußerungen festgenommen. Schon allein diese Tatsachen lassen schlussfolgern, dass die Behauptung, die deutsche Bevölkerung der Republik sei ein „dichtes Netz von Diversanten und Spionen“ gewesen, ein Lügenmärchen ist.

Anfang September 1941 wurden in alle wolgadeutschen Orte Militäreinheiten zur „Überwachung von Ruhe und Ordnung“ verlegt. Die Bevölkerung musste innerhalb kurzer Zeit, vielerorts binnen weniger Stunden, zum Abtransport bereit sein: Die Deportation wurde vom 3. bis 20. September durchgeführt. Zuvor waren die Steuern für das gesamte Jahr 1941 zu entrichten und das Eigentum gegen Quittung Sonderbevollmächtigten zu übergeben.

Nina Paulsen

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