2019 jährt sich die Gründung der ASSR der Wolgadeutschen zum 95. Mal. Aus diesem Anlass nimmt „Volk auf dem Weg“ in einer Beitragsserie verschiedene Aspekte der wolgadeutschen Geschichte der Zwischenkriegszeit bis zur endgültigen Auflösung 1941 und darüber hinaus unter die Lupe. Wir übernehmen den Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

1918 wurden die Wolgadeutschen durch die Gründung der Arbeitskommune in einen scheinbar privilegierten Status erhoben, der durch die Ausrufung der Wolgarepublik 1924 noch weiter aufgewertet wurde. Neben dem kurzfristigen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung seit Mitte der 1920er und in den 1930er Jahre in der Wolgarepublik, führten die Autonomierechte für die Wolgadeutschen auch zu einer vorübergehenden Blütezeit der deutschen Sprache und Kultur.

Der Status einer autonomen Republik ermöglichte den lokalen Eliten, sprachlich-kulturelle Bedürfnisse der deutschen Bevölkerung zu berücksichtigen und in Moskauer Zentralgremien vorzubringen. In den deutschen Kolonien wurde Deutsch wieder Amtssprache und neben Russisch und Ukrainisch auch Amtssprache der Republik.

Wolgarepublik als Prestigeprojekt der Sowjetführung

Die Autonomie der ASSRdWD war trotz vieler Möglichkeiten (vor allem im sprachlich-kulturellen Bereich) stark eingeschränkt. Die Wolgarepublik besaß zwar eigene Volkskommissariate für die meisten staatlichen Angelegenheiten, diese waren jedoch den entsprechenden Kommissariaten der übergeordneten RSFSR untergeordnet. Lediglich die Volkskommissariate für Bildung, Gesundheit, Landwirtschaft, Soziale Fürsorge, Justiz und Inneres unterstanden zwar den obersten Organen der Wolgarepublik, deren Haushalt musste aber erst von Moskau genehmigt werden.

Nach der Zeit des „Kriegskommunismus“ führte die Neue Ökonomische Politik (NÖP) der Jahre 1921-1927 auch im Wolgagebiet zu einem wirtschaftlichen Aufschwung. Für die Sowjetführung stellte die Wolgadeutsche Republik nicht zuletzt ein Prestigeprojekt mit Außenwirkung dar. Bis 1926 hatte sich die Landwirtschaft wieder so weit erholt, dass die Wolgarepublik zu den Gebieten Sowjetrusslands mit den größten Getreideüberschüssen aufrücken konnte.

Ein besonderes Augenmerk galt dem landwirtschaftlichen Getreidebereich. Dafür war die Errichtung staatlich subventionierter Bewässerungs- und Waldmeliorationsanlagen geplant. Zur Durchführung dieser Arbeiten stellte die Landwirtschaftsbank den Kolchosen der Wolgadeutschen Republik Mittel zur Verfügung. In der zweiten Hälfte der 1930er fasste die Unionsführung mehrere Beschlüsse über Finanzierung und Schuldenerlass für Kolchose und Maschinen-Traktoren-Stationen in der Wolgarepublik.

Unter den Bedingungen der NÖP waren unterschiedlichste Formen der landwirtschaftlichen Kooperationen entstanden, die maßgeblich die landwirtschaftliche Entwicklung förderten. Durch Kredite der Wolgadeutschen Bank entstanden auch genossenschaftliche Betriebe zur Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte. Bei der Versorgung der Bevölkerung nahmen Konsumvereine oder -genossenschaften eine führende Position ein. Sie verkauften nicht nur landwirtschaftliche Erzeugnisse, sondern auch einen Großteil der in den staatlichen Betrieben erzeugten Industrieprodukte. Auch Mittel für kulturelle und soziale Zwecke konnten bereitgestellt werden.

In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre wurde auch die industrielle Entwicklung der ASSR der Wolgadeutschen vorangetrieben. Mit dem Ziel, die ASSR der Wolgadeutschen in eine produzierende Republik zu verwandeln, wurden in den Jahren 1931-1932 in den industriellen Ausbau ca. sieben Millionen Rubel investiert. Mehrere Fleisch- und Konservenkombinate, Textilfabriken, Sägewerke, Getreidemühlen, Leder- sowie Tabakfabriken gingen in Produktion – dabei wurden bereits vorhandene Betriebe erweitert und modernisiert, andere neu aufgebaut.

Mitte der 1920er Jahre wurde in der Maschinenfabrik „Wiedergeburt“ in Marxstadt (vor 1919 Katharinenstadt) der erste eigene Kleintraktor hergestellt, wegen seiner geringen Abmessungen „Karlik“ (d. h. Zwerg) genannt. Vier Jahre später waren bereits 650 Traktoren im Einsatz. Die Fabrik „Wiedergeburt“ produzierte auch andere landwirtschaftliche Maschinen und Geräte in größeren Mengen. Landwirtschaftliches Gerät wurde auch in der Kleinindustrie und in Handwerksbetrieben hergestellt.

In Sarepta stellten ca. 335 Webereien den Baumwollstoff Sarpinka her, die Sarpinkafabriken beschäftigten 1926 schon 10.000 Weber. Neben den Weberei- und Trikotagefabriken in Balzer und Kratzke zählte die Spinnwollefabrik in Krasnyj Tekstilschtschik mit 1.904 Beschäftigten zu den größten Industriebetrieben.

Zu den führenden wirtschaftlichen Zweigen gehörte auch die Senfproduktion in Sarepta. Auch die Mühlenindustrie und die Mehlproduktion und -handel entwickelten sich weiter. Die Knochenmühle und das Fleischkombinat in Engels gehörten zu den größten in der Sowjetunion. Gezielt wurde auch die nationale Arbeiterklasse herangebildet – der Anteil der Arbeiter deutscher Nationalität wurde bis auf 65 Prozent erhöht.

Seit Mitte der 1920er Jahre legte der Volkswirtschaftsrat der Republik vom Reingewinn der Industrieproduktion 25 Prozent in einen so genannten Industriefonds an. Mit diesen Geldern wurden Maschinen erneuert, Industrieanlagen erweitert und Wohnungen für Arbeiter gebaut. Anfang 1930 verbesserte sich mit der Inbetriebnahme des Großkraftwerkes Saratow die Energieversorgung der Wolgarepublik entscheidend.

Der sowjetischen Ideologie unterworfen

Die Situation im wolgadeutschen Schulwesen hatte sich direkt nach der Oktoberrevolution radikal verändert. Die neue Schule war nicht mehr wie bisher die Pflegestätte nationaler und konfessioneller Eigenart und kultureller Werte der Volksgruppe.

Das sämtliche Schul- und Bildungswesen wurde nach und nach der sowjetischen Ideologie unterworfen. In den 1930er Jahren wurden die Kompetenzen des Kommissariats für Bildung immer mehr eingeschränkt, 1936 wurde die Bildungspolitik dann auch offiziell in die Zuständigkeit der Zentralbehörden übergeben. Trotz dieser negativen Entwicklung darf man die Wolgarepublik als territoriale Autonomie sowjetischer Prägung nicht als reine Fiktion betrachten.

„In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass in der Sowjetunion politische, sprachlichkulturelle und sozioökonomische Entwicklungsmöglichkeiten einzelner Nationalitäten an das Vorhandensein einer territorialen Autonomie gebunden waren. Es handelte sich dabei zum Beispiel um einen ungehinderten Zugang zu höheren Bildungsanstalten, berufliche Aufstiegsmöglichkeiten, muttersprachlichen Schulunterricht, Erforschung und Pflege – wenn auch im sowjetischen Sinne – der nationalen Geschichte und Kultur“, betont der Historiker Viktor Krieger.

Katharinenstadt/Marxstadt galt als Vorbild für die deutschen Kolonien an der Wolga. Das Knabengymnasium wurde in eine „musterhafte Neunjahresschule“ umgewandelt. 1924 eröffnete hier eine zweite neunjährige Mittelschule, die den Grundstein für die neue sowjetische deutsche Schule legte und eine Ausbildungsstätte für Lehrer wurde. Auch die Neunjahresschulen in Marxstadt, Seelmann, Balzer, Hussenbach und Grimm lieferten Studenten für die deutschen Fach- und Hochschulen. Tausende junge Wolgadeutsche erwarben an den Arbeiterfakultäten Mittelschulbildung, nachher war man berechtigt, das Studium an Hoch- und Fachschulen aufzunehmen.

In Marxstadt wurde ein Pädagogisches und ein Industrielles Technikum, in Krasny Kut ein Landwirtschaftliches und in Balzer ein Textil-Technikum eröffnet, es gab mehrere Ingenieurschulen. 1929 gründete man in Engels eine Deutsche Staatliche Pädagogische Hochschule, zuerst mit einer linguistischen Abteilung. Zwei Jahre später folgte die Deutsche Landwirtschaftliche Hochschule in Engels. Ende der 1930er Jahre hatte die Republik bereits fünf Hochschulen und elf Fachhochschulen.

Hochschulstudenten arbeiteten an der Zusammenstellung von Lehrbüchern und Lehrmitteln für die deutschen Schulen, die vom deutschen Verlag in Engels herausgegeben wurden. Diese Lehrbücher und Lehrmittel wurden in allen deutschen Schulen im ganzen Land benutzt. Viele der ersten Absolventen erhielten leitende Posten, etwa im Apparat der Volksbildung, als Inspektoren des Volkskommissariats für Bildungswesen der Republik, als Mitarbeiter der Zeitungsredaktionen oder als Leiter der Pädagogischen Techniken oder Fachschulen in Marxstadt, Seelmann und anderen Orten.

Großen Wert legte man auf die Kaderschmiede deutscher Parteikader für die ASSR der Wolgadeutschen. Für die Gebiete Samara und Saratow war die Sowjetparteischule in Marxstadt zuständig. In der Wolgadeutschen Republik wurden alle Voraussetzungen zur Weiterbildung der Mitarbeiter über das Kurssystem geschaffen. Tausende führende Kräfte der landwirtschaftlichen Betriebe und Dorfräte sowie Parteikader aller Ebenen (Sekretäre und Instrukteure) wurden ideologisch geschult.

Nina Paulsen

>> Fortsetzung folgt

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