Das Gebirge im Süden Almatys ist meist nur als Teil des Trans-Alatau-Weges zum Issyk-Kul, dem größten Bergsee in Kirgisistan, bekannt. Doch saftige Felder, wilde Flüsse und schneebedeckte Gebirgspässe beglücken jedes Wandererherz. Die Natur nahe der Millionenstadt bietet eine einmalige Vielfalt.
„Wo wollt ihr denn hin?“, fragt die noch verschlafene Kassiererin im pinken T-Shirt und blauen Gummisandalen mit skeptischem Blick auf unsere beiden mit Zelt und Isomatten bepackten Rucksäcke. Um halb sieben Uhr morgens stechen wir zwei Wanderer in schweren Schuhen und Regenjacken aus der kleinen Menschenmenge hervor, die im Bus Nummer Sechs nach Medeo sitzt. Die Antwort ist kurz: „In die Berge.” Wir wollen mehrere Tage vom Linken Talgartal aus über den Touristow-Pass hinunter zum großen Almatiner See gehen.
Das gelbe Gefährt schlängelt sich eine knappe halbe Stunde die Serpentinen hoch zum Medeo-Eisstadion. Es liegt 600 Höhenmeter oberhalb von Almaty und ist der Ausgangspunkt der Tour durch das Alatau-Gebirge. Die Gegend um das Stadion ist am frühen Donnerstagmorgen menschenleer, ganz anders als am Wochenende, wenn sich an dem beliebten Ausflugsort die Massen sammeln. Als wir den Bus verlassen, streckt die Kassiererin kurz ihren blonden Schopf aus dem Fenster und ruft: „Viel Glück!” Das können wir gebrauchen, denn das Wetter wirkt alles andere als vielversprechend. Dunkle Wolken ziehen am Himmel entlang, Almaty liegt unter einer trüben Glok-ke und in der Ferne ist der Regen schon sichtbar. Trotzdem machen wir uns frohen Mutes auf den ersten Tagesmarsch über das Kommisartal zum Berg „Furmanowka”. Vorbei an einzelnen, halb fertig gebauten Häusern geht es nach einem kurzen asphaltierten Stück steinig bergauf. Pferde und Kühe auf der kleinen Weide des letzten Hauses am Waldrand lassen wir hinter uns. Das Rauschen des Butakowka-Flusses bildet die einzige Geräuschkulisse. Mittlerweile ist Nebel aufgezogen und der Regen trommelt auf die Jacken. Monotonen Schrittes laufen wir auf einem Pfad immer an einem Gebirgskamm entlang. Man sieht nur wenige Meter weit, der Niederschlag wird immer stärker, Zeit um zu rasten. Auf der kleinen Ebene in knapp 3.000 Meter Höhe am Fuße des „Furmanowka” finden sich viele geeignete Plätze zum Zelten, denn es ist flach und nicht steinig. Die vielen Stunden bis zum Morgengrauen warten wir im Zelt und hoffen, dass Blitz und Donner nicht die Begleiter der nächsten Tage sind.
Auf in die Abgeschiedenheit
„Nataschka, aufwachen”, murmelt um fünf Uhr morgens mein Bergfreund Aggey und hält schon heißen Schwarztee bereit. Ich höre den Gaskocher surren und der Geruch von morgendlichem, süßem Buchweizenbrei liegt in der Luft. Das Wetter ist gut, die Sonne kriecht hinter den Bergrücken hervor und über Almaty spannt sich ein Regenbogen. Die Luft ist klar und frisch, als wir später den ersten Pass überqueren und auf das Alataugebirge schauen. Am Horizont erhebt sich der Berg Talgar mit seinen gut 5.000 Metern in Schnee und Eis. Wieder setzt leichter Regen ein, als wir die grünen Felder hinunter in das fast 1.000 Meter tiefer gelegene Linke Talgartal gehen. Steil verläuft der Weg vorbei an Felsen und von Feuer abgebrannten Bäumen zum Ufer des Flusses Talgar. Wir kämpfen uns durch nasses, mannshohes Gras, kalte Gebirgsbäche und über umgestürzte Bäume. Die Natur scheint wild und unberührt. Blumen sprießen in allen Farben und Formen aus dem Boden. Das Tal ist eng, die braunen Wassermassen des Flusses strömen gewaltig durch die Schlucht. Am Ufer wechseln sich steinige Moränen und saftig grüne Felder ab. Nur ab und an ist doch eine Spur von Menschen zu sehen – Feuerstellen mit verkohltem Holz und darin immer wieder alte Blechdosen.
Nach fünf weiteren Stunden finden wir einen gemütlichen Fleck auf den Wiesen der „Alpinskaja Rosa”. Feuerholz ist in dem angrenzenden Waldstück schnell gefunden und mit Blick auf die felsige Schlucht kehrt Ruhe in die erschöpften Gemüter.
Über den Touristow-Pass ins Tal der Almatinka
Der Weg führt immer am Flusslauf entlang. „Normalerweise ist er absolut unkompliziert und leicht zu gehen”, sagt Aggey, als er auf einem Geröllberg steht. Kopfschüttelnd schaut er auf den Bach, der zehn Meter unter ihm liegt und durch die letzte Schneeschmelze entstand. Der 21-jährige Almatiner geht seit frühester Kindheit in die Berge, ist Mitglied in der Alpinistenmannschaft und nutzt unsere Tour als Vorbereitung für die anstehende Expedition zum über 7.000 Meter hohen Pik Lenin. Seine Erfahrung hilft uns an dieser Stelle, denn es ist kompliziert und kostet Zeit, die steilen Erdwände hinunter zu klettern, durch das schlammige Wasser zu waten und sich auf der anderen Seite an den Steinen nach oben zu kämpfen. Doch nach diesem Abenteuer wartet Belohnung. Weiter am Fluss entlang erreicht man einen grünen Hügel von dem man auf das weite „Tal der Sonne” schaut. Hier durchzieht der Fluss in sanften Zügen die grüne Ebene, Gebirgsblumen säumen den Weg, in der Ferne erheben sich die schneebedeckten Berge.
Die Landschaft bleibt für einige Stunden so idyllisch. Hier und da verändert sich das Ufer, Gras wechselt sich mit kleinen, hellen Steinen ab. Am blauen Himmel schleichen dicke, weiße Wolken entlang, in der Sonne glitzert das klare Flusswasser und über den Gräsern schimmert es golden.
Der Weg führt jetzt gen Westen hinauf an den Fuß des „Touristow-Passes”. Drei Stunden lang gehen wir aus der farbenfrohen Landschaft des Linken Talgartals herauf und erreichen den kahlen Lagerplatz auf fast 3.500 Metern Höhe. Große Findlinge säumen das Ende der Gletschermoräne, ein Gebirgsbach plätschert leise zwischen den eisigen Wänden der umliegenden Berge. Kein Baum, kein Strauch, vereinzelt bedecken noch Gräser das Land, ansonsten nur Geröll, soweit das Auge reicht. Der Aufstieg zum Pass über die Steinfelder ist mühsam, die zu überwindende Schneewand ist schon von weitem zu sehen und nur das schrille Pfeifen der Murmeltiere durchzischt manchmal die Luft. Als wir oben stehen, durchbricht Sonnenlicht die dunkle Wolkendecke, der grelle Schnee lässt uns blinzeln, melancholisch blicken wir ein letztes Mal zurück ins Tal und machen uns dann an den Abstieg.
So nah und doch so fern
Nur wenige hundert Meter stapft man durch kniehohen Schnee. Danach führen die zahlreichen Steinhäufchen als Wegmarkierung hinunter ins Tal der großen Almatinka. Einige Stunden dauert der leichte Abstieg, auf dem man auch auf den „Osornoje Pass”, die Grenze zu Kirgisistan und den Weg zum Bergsee Issyk-Kul blickt. Die kahle Landschaft mit den braunen Flächen und Steinen überragt die höchsten Gipfel des Tujuk-Su Gletschers, der „Pik-Kamsamol” und der „Pik-Sowjetow”. Dieser thront immer rechterhand und dient so als gute Orientierungshilfe, denn an seinen westlichen Ausläufern liegt das Ziel, der große Almatiner See.
„Wir sind in den drei Tagen noch keinem Menschen begegnet”, sagt Aggey, als er im Gras liegend, die Hände im Nacken verschränkt, in die Sonne schaut. Zu hören sind nur das Rauschen des Flusses und der Wind, der die Gräser streift. Diese Spuren der Natur sind die einzigen Begleiter auf dem Pfad oberhalb des Flusslaufes. Über Wurzeln und Sträucher dauert es noch gute zwei Stunden bis sich der türkise See zwischen den Bergen zeigt. Ein schöner Platz für das Nachtlager liegt oberhalb des Ufers zwischen großen Felsbrocken und dunkelgrünen Nadelbäumen. Dort ist es ruhig und der Blick streift in einer Richtung den See mit dem Damm und den vereinzelten Häusern und in der anderen Richtung die unberührten weiten Täler und schneebedeckte Berge. Das Ende der Route ist nahe, Zivilisation seit Tagen erstmalig sichtbar. Die letzten Stunden auf dem Rundkurs um Almaty lassen wir auf einem der Findlinge ausklingen. Die Sonne verschwindet langsam hinter der Gipfelpyramide des Großen Almatiner Berges, die Farbe des Sees wird immer dunkler und schimmert letztlich als wäre es Eis.
Von Natascha Heinrich
28/07/06