Maria Reinhart arbeitet in Astana als Sprachassistentin für das Goethe-Institut. In der DAZ erzählt die 24-jährige zukünftig regelmäßig von Ihrem Leben in der kasachischen Hauptstadt.
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Als ich im Jahr 2001 in Leipzig Germanistik zu studieren begann, war es unglaublich out, sich in eine echte Philologie oder womöglich noch in eine echte historische Wissenschaft zu immatrikulieren. Wer die Zeichen der Zeit erkannt zu haben glaubte, studierte Kulturwissenschaften oder Kommunikati-onswissenschaften. Eltern, Freunden, Klassenkameraden war schwer zu erklären, was man macht, während man das studiert. Noch viel schwerer war es, die Frage zu beantworten, was man danach macht, wenn man fertig studiert hat.
Es ist nahezu unmöglich, einem Maschinenbauer oder Wirtschaftsingenieur zu erklären – ohne dass der einen für verrückt hält – warum man ein Fach studiert, das nach sechs Jahren Studium, Auslandsaufenthalten, Fremdsprachenerwerb und Praktika zu keiner Berufsbezeichnung führt. Eines der ersten Dinge, die mich meine Schüler auf Deutsch fragen können, ist: „Was ist Ihr Beruf?” Anfangs habe ich geschluckt, beschämt zu Boden gestarrt und erklärt: „Ich habe Germanistik studiert.” „Sie sind Studentin!” „Nein”, antworte ich, „ich bin schon fertig damit.” „Und was ist dann Ihr Beruf?!” Seitdem antworte ich nur noch: „Ich bin Lehrerin für Deutsch!”
Nun, in den gefragten Kultur- und Kommunikationswissenschaften gibt es ein sehr angesagtes Fachgebiet: Die interkulturelle Kommunikation. In den vom Goethe-Institut betreuten Bibliotheken auf der ganzen Welt wird man immer eine Reihe an Standardwerken zu diesem Thema finden, deren Inhaltsverzeichnis ebenso standardisierte Fragen zu beantworten versucht: Was ist Kommunikation? Was ist Kultur? Was ist Sprache? Was sind Kulturstandards? Immer bemüht, keine Stereotypen zu schüren, lassen sich die Autoren der Abhandlungen und Ratgeber nur vorsichtig darauf ein, kulturspezifische Tipps zu geben: Dass Chinesen sehr höfliche Menschen sind und deshalb in einem Gespräch nicht zur Sache kommen, wenn es um etwas Unangenehmes geht. Dass Menschen in ganz Asien öffentliches Naseschneuzen widerlich finden. Dass man als Frau nicht gleich pampig werden darf, wenn man in muslimischen Ländern nicht die Hand gereicht bekommt, im galanten Polen aber durchaus mit einem Handkuß rechnen muss. Dass eine unzerknitterte Plastiktüte in Deutschland freundlich als ein Spontaneinkauf gewertet wird, eine wiederbenutzte zerknitterte Plastiktüte aber als ärmlich gilt.
Wer als Student und junger Akademiker weltweit Praktika absolviert und zu arbeiten beginnt und darauf hofft, im Zeugnis „interkulturelle Kompetenz” bescheinigt zu bekommen, hat zwei Möglichkeiten: Einmal, alles auf sich zukommen zu lassen und auf das international Allgemeinmenschliche zu bauen. Und einmal, sich vor und während des Aufenthalts so umfangreich zu informieren wie möglich. Auch nach drei Monaten in Kasachstan erwische ich mich dabei: „Maria, jetzt warst du aber wieder total interkulturell inkompetent!” Ich baue darauf, daß es mir das Geburtstagskind nicht übel nimmt, wenn ich nach dem Trinkspruch mein Wodkaglas nicht in einem Zug leere, weil ich einfach nicht mehr kann. Manchmal muß ich mich öffentlich schneuzen, weil meine Eltern es mir geradezu zu einem Re-flex anerzogen haben, mir die laufende Nase zu putzen. Ich muß aufpassen, meinem Vordermann am Geldautomaten dicht genug auf die Pelle zu rücken – wenn ich den in Deutschland geltenden Diskretionsabstand einhalten würde, käme ich nie an Bares. Manchmal erwische ich mich, daß ich am Telefon frage „Und wer spricht, bitte?” Hoffentlich nehmen mir das meine kasachstanischen Anrufer nicht übel. Wenn meine Kursteilnehmer an dem Tag, an dem sie wissen, daß ich unterrichte, nicht pünktlich sind, gerate ich in Panik, aus Angst, sie mögen mich und meinen Unterricht vielleicht nicht. Ich habe Komplexe, ob meine französische Mitbewohnerin ihre Nazi-Klischees in mir bestätigt finden könnte, nur weil ich zweimal wöchentlich die ganze Wohnung putze. Manchmal beschimpfe ich gestisch die Autofahrer, die trotz roter Ampel auf den Fußgängerbereich rollen, so daß ich als Passant zwischen den Autos herumkurven muß: Ob sie überhaupt verstehen, worüber ich mich aufrege? – Im täglichen Leben gibt es so viel zu beachten, daß es sich wohl doch lohnt, sechs Jahre lang Kultur- und Kommu-nikationswissenschaften zu studieren. „Und was ist Ihr Beruf?” „Ich bin interkulturell kompetent!”
Maria Reinhart
25/01/08