Überall auf der Welt kann man im Moment ein Spielchen beobachten, das mit großer Regelmäßigkeit auftaucht, um dann wieder zu verschwinden, damit es irgendwann wieder auftauchen kann. Die Rede ist vom Ruf nach dem Staat, wenn es der Wirtschaft nicht allzu gut geht und vom Zurückweisen des Staatseinflusses, wenn es der Wirtschaft gut geht.
Der Einfluss des Staates – ich bevorzuge die Formulierung „das Einmischen des Staates in das Leben der Bürger“ – wird mit der wirtschaftlichen Kennziffer der „Staatsquote“ gemessen. Diese misst die Relation zwischen den Ausgaben des Staates (Staatshaushalt und spezielle Fonds) und dem Bruttoinlandsprodukt. Das ist mit anderen Worten der Anteil vom Volkseinkommen, den der Staat zwangsweise über seine Kanäle umverteilt. In Schweden zum Beispiel beträgt die Staatsquote über 50 Prozent, in den USA liegt sie bei nur etwa 35 Prozent.
Verwundert werde ich immer angeschaut, wenn ich, vor allem in Fortbildungslehrgängen von Staatsdienern, frage, weshalb der Staat eigentlich notwendig ist. Man ringt sich dann Antworten ab, die hierzulande sehr und zu oft in die Nähe eines Glorienscheines geraten. Da werden dem Staat und seinen Angestellten, die ja auch nur ganz normale Menschen sind, weit überdurchschnittliche intellektuelle und psychische Eigenschaften zugeschrieben: der Machtaspekt, und anders herum, der Unterwerfungsaspekt, der meist nicht gesehen oder als selbstverständlich hingenommen wird.
Dabei gilt ja eigentlich, dass der Staat für seine Bürger da ist und nicht umgekehrt. In der Praxis aber ist das durchaus bei weitem nicht so, sprich, staatliche Strukturen können sich schnell verselbständigen und die Menschen beherrschen. Die Beispiele dafür liefert das Leben täglich, angefangen vom Benutzen der öffentlichen Verkehrsmittel bis hin zum Einholen der unvermeidlichen „Sprawka“, für weiß der Himmel was für einen Zweck.
Aufgabe und damit zugleich Wirkungsgrenze des Staates ist das Bereitstellen öffentlicher Dienstleistungen. Das sind solche Dienstleistungen, die wirtschaftlich sinnvoll nicht von privaten Unternehmen bereitgestellt werden können, also zum Beispiel Kultur- und Sportangebote. Oder solche Dienstleistungen, die von Privaten nicht bereitgestellt werden sollen, um das Machtmonopol des Staates zu erhalten – beispielsweise Sicherheitsdienstleistungen der Polizei und Armee.
Praktische Frage ist jedoch immer, welche Dienstleistungen der Staat in welchem Umfange bereitstellen soll. Schließlich kostet alles Geld, das ja erst einmal den Bürgern in Form von Steuern abgenommen werden muss. Die Antwort auf die Frage nach dem Umfang bereitzustellender staatlicher Dienstleistungen muss die Gesellschaft geben. Diese Antwort fällt je nach Land sehr unterschiedlich aus. In Kasachstan hat die Gesellschaft entschieden, dass Hochschulbildung überwiegend kostendeckend privat zu finanzieren ist, in Deutschland steht dafür trotz bestimmter Studiengebühren nach wie vor der Staat ein. Bezüglich der gesellschaftlichen Entscheidung in Kasachstan in dieser Frage ist anzumerken, dass das Fehlen von großflächigen Protesten gegen solche Entscheidungen „von oben“ letztlich als stille Zustimmung gewertet werden muss.
Im Moment wird, wie gesagt, wieder stark nach dem Staat gerufen. In den USA und Europa, aber auch in Kasachstan wegen der weltweiten Finanzkrise. Hier springen die Nationalbanken mit mehr als gewaltigen Summen ein, um einen Zusammenbruch des Bankensektors zu verhindern. Das ist nicht automatisch richtig, auch wenn man die besondere Breitenwirkung eines Bankenzusammenbruches beachtet. Heraus kommt in diesen Fällen nämlich, dass zwar die Gewinne in private Taschen fließen, die Risiken und Verluste aber sozialisiert, das heißt dem Steuerzahler aufgebürdet werden. Doch damit nicht genug: die heute in die Geldkreisläufe gepumpten gewaltigen Geldmengen werden unvermeidlich die weltweite Inflation anheizen, was wieder vorwiegend die breite Masse der kleinen Leute trifft. Im Moment sind die staatlichen Strukturen zwar überall in einem großen Dilemma und können wahrscheinlich kaum anders handeln. Wenn die Zeiten aber wieder ruhiger werden, ist über diese Frage (wieder) einmal nachzudenken. Allerdings von der Gesellschaft, nicht nur von einigen Machern. Dabei sollte es jedoch nicht nach dem Denkschema gehen „Sozialisierung der Gewinne, da Sozialisierung der Verluste“, sondern eher „Privatisierung der Verluste, da Privatisierung der Gewinne“.
Bodo Lochmann
04/04/08