Von Nur-Sultan nach Ust-Kamenogorsk – unsere Autorin Alexandra Heidsiek hat sich vor kurzem auf ein Reiseabenteuer durch den Nordosten Kasachstans begeben. Entstanden ist ein Bericht über gastfreundliche Menschen, kasachische Nomadenspiele und wodkagetränkte Abende.

NUR-SULTAN

„Kann ich bei Ihnen ein Ticket kaufen?“ „Ein Ticket?“, lacht der Busfahrer mit Tränen in den Augen, „Hier? Ne!“. Ich lächle nervös und setze mich auf einen freien Platz. Dann sende ich eine WhatsApp-Nachricht an meinen Gastgeber: Wie fahre ich in Nur-Sultan legal Bus? Jaslan antwortet sofort mit geschockten Emojis. „Du fährst ohne Ticket?“ „Ja, notgedrungen“ „Ich rufe sofort die Polizei!“ Ich kenne ihn noch nicht gut und kann nicht einschätzen, ob das ein Scherz sein soll oder nicht. Vorsichtshalber schleiche ich mich aus dem Bus und laufe die letzten zwei Kilometer zu Fuß.

„Du bist gegangen?“ prustet Jaslan nach meiner Ankunft. Seine Einrichtung besteht aus einem Schreibtisch, einem Stuhl und einer Luftmatratze. Dazu besitzt er genau drei Deko-Objekte: eine Weihnachtsmütze über der Tür, eine kasachstanische Flagge auf dem Computer und ein Bild von Nursultan Nasarbajew als Schachtarbeiter. Er isst aus Pappgeschirr und trinkt aus Coffee-To-Go-Bechern. Außerdem kauft er einlagiges Toilettenpapier. Ich konfrontiere ihn damit und kontere: „Dir ist alles zuzutrauen.“ „Fair“, antwortet mein Gastgeber und dreht sich zurück zu seinem Computer, auf dem er Krypto schürft.

In Kasachstan mache ich eine zweiwöchige Rundreise. Zuhause hatte ich mir grob eine Route ausgedacht: Von der Hauptstadt aus wollte ich in einem Bogen über Karaganda, Semej und Ust-Kamenogorsk nach Almaty fahren. Übernachten wollte ich bei lokalen Gastgebern, die ich über die Reiseplattform Couchsurfing gefunden hatte. Fliegen kam nicht in Frage – schließlich wollte ich die Steppe und die Entfernungen auf mich wirken lassen.

Auf den Straßen von Nur-Sultan ist es leer. Ich bin die Einzige, die Selfies mit dem Baiterek-Turm macht. Abends laufe ich in Richtung des Präsidentenpalasts, weil Google Maps mir das als Heimweg so angezeigt hat. Abgesehen von ein paar Wachen bin ich allein. Darf ich überhaupt hier sein? Ich komme von Googles vorgeschlagener Route ab und verlaufe mich. Schließlich finde ich einen Bus und fahre unbeabsichtigt schwarz nach Hause. Willkommen in Kasachstan.

KARAGANDA

Ein Schnellzug bringt mich aus der Hauptstadt zum nächsten Ziel meiner Reise: Karaganda. Die Stadt ist bekannt für ihr Arbeitslager, Karlag. Dorthin wurden in den 30er und 40er Jahren eine Menge Künstler, Schriftsteller und andere Intellektuelle deportiert. Der Lagerkomplex selbst ist überraschend schön: Es gibt eine kleine Parkanlage und sogar einen Springbrunnen. Sonst bietet Karaganda nicht viel Interessantes, selbst das Lager befindet sich in einem Dorf ca. 40 Minuten entfernt. Gut, dass mein dortiger Gastgeber Ahmad gerne unter Menschen ist.

„Wo bist du?“ Ich hatte gerade im Schatten eines Denkmals Platz genommen, als mein Handy aufleuchtet. „Am Platz der Unabhängigkeit“ „Wo? Was?“ „Da bei der großen weißen Stele mit dem goldenen Adler oben drauf“ „Ah. Bleib da, ich hole dich ab.“ Wenige Minuten später steige ich in Ahmads modernen, schwarzen Sportwagen. Wir essen etwas zusammen, dann fahren wir nach Hause.

Im Innenhof bleibt mein Gastgeber kurz stehen, sagt „Obwohl …“ und fährt rückwärts wieder heraus. Plötzlich sind wir in einem Supermarkt. Ahmad redet nicht viel, und ich frage nicht nach. Er läuft im Zickzack durch den Laden, trägt Würstchen, Pilze, Ketchup und Plastikgeschirr zusammen. Außerdem dicke Fleischtomaten, Weißwein und Fetakäse. Ich versuche zu erraten, was er vorhat: Wird dies vielleicht das seltsamste Picknick der Welt? Oder ist ihm eingefallen, dass er noch einkaufen muss? Hoffentlich kein Picknick, flehe ich innerlich. Ich hasse Pilze.

Wir fahren wieder los und stehen auf der großen Buqar-Schyrau-Allee im Stau. Also doch Picknick, schießt es mir durch den Kopf. Ahmed hat mir immer noch nicht erzählt, was wir machen. Als er plötzlich in einen unbefahrenen Feldweg abbiegt, denkt mein an True Crime und Gruselgeschichten gewöhnter Verstand sofort an Mord. Wir biegen in ein Waldstück ab, das an einen kleinen See angrenzt. Ahmad und der Wachmann scheinen sich zu kennen, er winkt uns kommentarlos durch. Während ich Fotos vom Sonnenuntergang mache und mich auf meine letzten Minuten vorbereite, entschuldigt sich mein Gastgeber. Als er wiederkommt, hat er Schaschlikspieße dabei. Seufzend vertilge ich zwei Reihen geschmorter Pilze, die ich in Ketchup, Tomaten und Fetakäse ertränke.

Nichts außer Steppe: Semej hat abgesehen von seiner düsteren Geschichte nicht viel zu bieten.
Nichts außer Steppe: Semej hat abgesehen von seiner düsteren Geschichte nicht viel zu bieten.

SEMEJ

Die Zugverbindung von Karaganda nach Semej dauert 26 Stunden. Der Bus braucht 19. Die lokale Infrastruktur bereitet mir solche Kopfschmerzen, dass ich mich dazu entscheide, per Anhalter zu fahren. Einige Konversationen über Flüchtlinge in Deutschland, die gute alte Zeit in der Sowjetunion und die endlose Steppe später erreiche ich Semej, das früher Semipalatinsk hieß. Der ehemalige Präsident entschied sich 2007 dazu, die Stadt umzubenennen. Semipalatinsk war das Zentrum sowjetischer Atomtests, viele Anwohner der Region wurden krank oder zwangsumgesiedelt. Der neue Name soll davon etwas ablenken – in der Hoffnung, einen Umzug in die Stadt attraktiver zu machen. Es hat nicht funktioniert. Als ich meine Gastgeberin Aljona frage, was man in Semej machen kann, sagt sie: „Nichts. Die Stadt ist nicht besonders spaßig.“

An meinem ersten Abend sitzen wir nach dem Essen im Wohnzimmer. Aljonas siebenjährige Tochter, Sarina, kommt ins Zimmer gerannt. Sie hat einige Medaillen um ihre Kuschelkatze geschlungen. „Guck mal!“, ruft sie aufgeregt. „Wow! Wofür sind die denn?“, frage ich sie. „Sarina und ihr Bruder Rinat nehmen an Kumalak-Meisterschaften teil“, antwortet Aljonas Mann, Simbat. Die beiden Englischlehrer sind ein interethnisches Paar: Aljona ist Russin, Simbat Kasache. In beiden Familien gab es deshalb Probleme, die Eltern missbilligten die Ehe lange. Aljona erzählt, dass sie auf der Straße oft für Rinats und Sarinas Kindermädchen gehalten werde.

Rinat springt auf und kommt kurz darauf mit einem hellblauen Plastikkasten in der Hand zurück. „Kumalak!“ Er fängt an, schwarze Kügelchen in einzelne Schalen zu verteilen. Es gibt zwei Seiten, neun Schalen pro Seite. In jeder Schale liegen neun Kügelchen. „Das ist Kumalak“, erklärt er mir auf Englisch und nimmt ein paar Kügelchen in die Hand. Neugierig beobachte ich ihn. „Kumalak geht hier. Zehn!“, sagt er, und legt sie in andere Schalen. Dann zeigt er auf mich. „Jetzt du!“

„Hast du verstanden, was du machen musst?“, erkundigt sich Simbat. „Absolut nicht“, erwidere ich und lege nach dem Zufallsprinzip ein paar Bällchen in Schalen. Dann gibt mir Rinat einige zurück und legt sie in andere Schalen. Mir dämmert, dass das Spiel irgendetwas mit geraden Ziffern zu tun hat, dann lenkt seine Schwester die Aufmerksamkeit meines Gegenspielers auf sich, und die Runde ist vorbei. „Übrigens, was glaubst du, was Kumalak bedeutet?“, fragt Simbat. „Kügelchen?“, rate ich, „Schafsdung! Die Nomaden haben dieses Spiel früher mit Schafsdung gespielt!“

In Ust-Kamenogorsk geht es etwas grüner zu: Sonnenuntergang am Fluss Irtysch.
In Ust-Kamenogorsk geht es etwas grüner zu: Sonnenuntergang am Fluss Irtysch.

UST-KAMENOGORSK

Von Semej fahre ich mit dem Sammeltaxi nach Ust-Kamenogorsk. Ust-Kamenogorsk, oder Öskemen, wie die Stadt auf Kasachisch auch genannt wird, liegt am Fuße des Altai-Gebirges. Ich hatte mir von meinem Aufenthalt erhofft, in ein nahegelegenes Naturreservat in den Bergen zu fahren. Als ich bei meiner Gastgeberin Natascha ankomme, ist es 10 Uhr morgens. Sie begrüßt mich, gibt mir die Schlüssel für ihre Wohnung, sagt „Viel Spaß! Ich lege mich wieder hin“, und verschwindet in ihrem Zimmer.

Ich spaziere ein wenig durch Ust-Kamenogorsk, aber die Strapazen meiner Reise holen mich ein. Die Busfahrt zurück bezahle ich. Ein Meilenstein. Zuhause angekommen kocht Natascha Nudeln. Beim Essen erzählt sie mir, dass im Laufe des Tages noch einige Freunde von ihr vorbeischauen. Dann betritt ihre Mitbewohnerin die Küche.

„Bist du Engländerin?“, fragt sie, in den Küchenschränken rumwühlend. „Ich habe gemerkt, dass dein Russisch nicht so gut ist.“ „Ich bin Deutsche“ „Aber du hast einen englischen Akzent“ „Wenn ich nicht sicher bin, wie man etwas ausspricht, ist Englisch mein Standard. Ich weiß nicht, wieso“. Nachdem sie verschwunden ist, wende ich mich beleidigt an Natascha. „Mein Russisch ist nicht so gut! Ich will sie Deutsch sprechen hören!“ „Sie ist 17.“ „Kein Grund, so unfreundlich zu sein“, murmele ich. Dann klingelt es an der Tür.

Nach anderthalb Litern Wodka mit Kaugummigeschmack liege ich einen Eimer umklammernd auf dem ausklappbaren Sessel im Wohnzimmer. „Krankenhaus … bitte“, rufe ich auf Russisch. „Keiner wird dir hier helfen.“ „Krankenhaus!“, dränge ich, diesmal auf Englisch. „Leg dich hin, schlaf.“ „Krankenhaus!“

Am nächsten Morgen muss ich früh aufstehen und 28 Stunden Zug fahren. Ich war nicht dazu in der Lage, selbst für Proviant zu sorgen und hätte fast meine Bahn verpasst. Glücklicherweise hatte sich Natascha spontan dazu entschlossen, mitzufahren. Sie hat unser Essen vom Vortag eingepackt. Auf dem winzigen Klapptisch in unserem Abteil breitet sie ein Festmahl aus. Essen, denke ich, hat man als Gast in Kasachstan immer genug.

Alexandra Heidsiek

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