Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts herrschte Nikolaus I. aus dem Hause Romanow-Holstein-Gottorp über das Russische Reich. Genauso wie bereits Zar Peter der Große zwischen 1697 und 1698 – und so, wie es der Zeitgeist Ende des 19. Jahrhunderts von Europas jungen Adeligen erwartete – ging auch Nikolaus I. in den Jahren 1814 und 1815 auf die sogenannte „Grand Tour“ durch die Länder Europas, um westliche Kunst, Kultur und Wissenschaft zu studieren. Peter der Große ließ sich inspirieren von dem, was er im Westen sah. Er erließ eine Steuer auf die wilden Bärte der russischen Bauern, sagte der Trunksucht in der russischen Bevölkerung den Kampf an, gründete Sankt Petersburg, und stieß für das im tiefsten Mittelalter versunkene Russland das Fenster zum Westen auf.

Man kann nicht gerade sagen, dass Nikolaus I. so progressiv und inspiriert aus dem Westen zurückkehrte. Am 3. September 1826 in Moskau zum Kaiser Russlands gekrönt, errichtete er ein autoritäres Regime mit einer äußerst effektiven und brutalen Geheimpolizei. Er förderte russischen Nationalismus, lehnte die Aufhebung der Leibeigenschaft entschieden ab, und drängte systematisch Protestanten, Katholiken und Juden dazu, zur orthodoxen Kirche zu konvertieren. Außenpolitisch blieb der Zar Russlands erfolglos. Als Nikolaus 1853 versuchte, die Türkei zu erobern, wandten sich sämtliche europäische Bündnispartner von Russland ab. Der Einfall in die Türkei misslang, und die russische Armee wurde bei den Schlachten im darauffolgenden Krimkrieg geschlagen. Nikolaus I., der an Schüttelfrost und einer Lungenendzündung litt, starb am 2. März 1855, noch bevor die Kämpfe auf der Krim beendet waren.

Bereits im Jahr 1827 wurde Nikolaus I. allerdings zum Ehrenmitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften St. Petersburg ernannt. In dieser Funktion gründete er 1839 eine Sternwarte auf dem Pulkowo-Hügel, etwa 18 Kilometer südlich von St. Petersburg. Als künftige Hauptsternwarte Russlands wurde Pulkowo mit den modernsten Geräten ausgestattet. Der dort 1839 aufgestellte große Refraktor der Sternwarte mit 38 cm. Öffnung war etwa zehn Jahre lang das lichtstärkste Linsenfernrohr der Welt. Dazu kam die günstige geografische Lage hoch im Norden, die Beobachtungen erlaubte, welche von südlicheren Sternwarten wie dem Royal Greenwich Observatory in London nicht durchgeführt werden konnten.

Unter dem ersten Direktor, dem Deutschbalten Friedrich Wilhelm Struwe, bestand die Hauptaufgabe des Observatoriums in der Positionsbestimmung der Sterne, der Untersuchung von Doppelsternen und der exakten Bestimmung astronomischer Konstanten. Die in Pulkowo gewonnenen Daten dienten der Landvermessung von Russland sowie für Zwecke der Navigation und der geografischen Forschung. Im Laufe der Jahre wurden in Pulkowo bedeutende Forschungsergebnisse und Entdeckungen im Bereich der Astronomie geleistet, seit 1990 gehört das Observatorium zum UNESCO Weltkulturerbe der Menschheit.

Behinderungen durch Bürgerkrieg

Es war jene Himmelsforschungsanstalt Pulkowo, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Planungen für ein Observatorium für die Stadt Werny übernahm und ausführte. Der Zweck dieser neuen Forschungsanlage ganz im Süden des Russischen Zarenreichs war allerdings nicht die Beobachtung der Sterne, sondern des Wetters. Die Meteorologie stand in Zentralasien Mitte des 19. Jahrhunderts auf verlorenem Posten. Die ersten Wetteraufzeichnungen auf dem Gebiet Kasachstans erfolgten in der Wetterstation Kasalinsk 1848. Die Wetterstation Semipalatinsk folgte 1854, Irgiz und Kyzylorda 1856.

In Werny wurden 1859 zum ersten Mal Wetterdaten erhoben. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts existierten in Kasachstan nur 28 Wetterstationen, in denen ungelernte Hilfsarbeiter mit primitiven Instrumenten lediglich Temperatur, Niederschlag und Wind beobachteten. Das System an meteorologischen Stationen wuchs bis 1918 nur sehr langsam, ein kleiner Teil dieses mäßigen Wachstums ist das zwischen 1914 und 1915 errichtete neue Observatorium der Stadt Werny.

Die meteorologische Arbeit in Kasachstan kam mit der Oktoberrevolution 1917 schließlich vollständig zum Erliegen. Daran änderte auch der schöne Observatoriumsneubau aus Tienschan-Tannen mit seinem charakteristischen zehn Meter hohen Türmchen nichts. 1918 zog das Oberkommando der Roten Armee in das Haus. Bis in die frühen 1920er Jahre herrschte Bürgerkrieg zwischen den Bolschewisten und den Anhängern des Zaren, auch in Zentralasien blieben die Verhältnisse noch lange Zeit ungewiss. Für Wetterbeobachtungen fehlten finanzielle Mittel, Ausstattung und Interesse.

Seit 1932 Wettervorhersagen für Alma-Ata

Schon bald darauf war der Bürgerkrieg allerdings Geschichte. Die Bolschewisten entschieden den Kampf für sich, Zentralasien wurde kommunistisch, Werny hieß nun Alma-Ata und wurde schließlich die Hauptstadt der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Auch die Wissenschaft erlangte wieder Bedeutung. 1929 wurde das Hydrometeorologische Komitee der Sowjetunion gegründet. Kurz darauf folgte dessen kasachischer Ableger KazGidroMet, der nationale hydrometeorologische Dienst der Kasachischen SSR. 1932 wurde das Observatorium von Alma-Ata die zentrale meteorologische Station der Kasachischen SSR.

Ab 1932 wurden Wettervorhersagen für die Stadt Alma-Ata sowie für relevante Luftverkehrswege des Flughafens erstellt. Ab 1940 gab es Drei-Tages-Wettervorhersagen für die Stadt. In Kasachstan baute man das Netzwerk aus Wetterstationen stark aus. 1940 existierten 210 meteorologische Stationen, 175 hydrologische Messstellen und 20 aerologische Messpunkte, die auch Messungen mit Wetterballons durchführten. Zur Zeit des deutsch-sowjetischen Krieges wurden bedeutende Wissenschaftler aus dem Westen der Sowjetunion nach Alma-Ata evakuiert und führten ihre Beobachtungen und Forschungen vom Observatorium Alma-Ata aus fort.

Tienschan gut für Beobachtungen geeignet

Die letzten wissenschaftlichen Beobachtungen fanden im Observatorium bis zum Ende der 1960er Jahre statt. Das Zeitalter der Raumfahrt war angebrochen, und die Station wurde in den 50er und 60er Jahren zur Beobachtung von frühen Weltraumsatelliten verwendet. Danach bot das Gebäude offensichtlich nicht mehr ausreichend Möglichkeiten für zeitgemäße wissenschaftliche Beobachtungen. Das Observatorium wurde in ein Museum der Hydrometeorologie des KazGidroMet umgewandelt, außerdem wurde dort eine Vertretung des Umweltschutzamtes des Gebietes Almaty eingerichtet.

Derweil wurde das Gebiet Almaty allerdings auch für die Beobachtungen des Universums überaus relevant. Städtische Gebiete eignen sich wegen der Lichtverschmutzung kaum für die Beobachtung des Sternenhimmels. Das nahe Tienschan-Gebirge allerdings bietet Orte, die sich aufgrund ihrer Höhe und Abgeschiedenheit besonders gut für die Astronomie anbieten. Dazu zählt das etwa 70 Kilometer von Almaty entfernte und auf einer Höhe von 2800 Metern gelegene Assy-Hochplateau. Zwar seit Jahrhunderten von örtlichen Nomaden als Sommerweise genutzt, aber ansonsten weit weg von jeglicher Zivilisation, wählte man diesen Ort gegen Ende der 1970er Jahre als Standpunkt für eine Sternwarte.

Historisches Observatorium umfassend renoviert

Seit 1981 werden in der Sternwarte Assy-Turgen mit einem Zeiss-Teleskop mit 1m-Durchmesser Sternenbeobachtungen durchgeführt. Anfang der 1990er Jahre begann der Bau eines noch größeren Teleskops, welches viele Jahre lang nicht fertiggestellt wurde. Seit 2017 allerdings ist das Spiegelteleskop vom Typ AZT-22 mit einem Durchmesser von 1,5 Metern – eines der weltgrößten seiner Art – in Betrieb und ergründet Nacht für Nacht ferne Galaxien und die Geheimnisse des Universums. Das Hochplateau Assy ist heute von Almaty relativ problemlos mit geländegängigen Fahrzeugen zu erreichen und bietet nachts bei bloßem Auge einen spektakulären Blick auf den Sternenhimmel und die Milchstraße.

Das historische Observatorium der Stadt Werny wurde bis 2016 umfassend renoviert. Es soll bald eine Kunstgalerie dort einziehen. Die Restaurierung war erfolgreich, und das Observatorium – seit 2010 Denkmal der Geschichte und Kultur der Stadt Almaty – erstrahlt seitdem farbenfroh und im neuen Glanz. Getrübt wird das Bild lediglich durch einen in direkter Nachbarschaft hochgezogenen Hotelneubau. Ein grauer Klotz, neben dem die historische Wetterwarte von Werny leider völlig untergeht. Aber wer dem Neubauwahn von Almaty entfliehen will, dem sei ein Ausflug in die Einsamkeit des Plateau Assy im nahen Tjenschan-Gebirge ans Herz gelegt.

Philipp Dippl

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