Der Außerordentliche und Bevollmächtigte Botschafter Kasachstans in Deutschland über die Stärkung der bilateralen Beziehungen zwischen Kasachstan und Deutschland.
Herr Onzhanov, wie beurteilen Sie den Stand und die Perspektiven der kasachisch-deutschen Zusammenarbeit vor dem Hintergrund der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen?
Im Februar dieses Jahres jährten sich 31 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Kasachstan und Deutschland. In dieser Zeit haben wir viel erreicht: Die Partnerschaft zwischen unseren Ländern ist durch ein hohes Maß an Vertrauen und Nähe gekennzeichnet, und heute sind wir bereit, eine qualitativ neue Ebene zu erreichen. Der Staatsbesuch des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier in Kasachstan hat symbolischen Charakter und wird von beiden Seiten als deutliches Signal und symbolischer Bezugspunkt für den Beginn der nächsten Phase der gemeinsamen Arbeit angesehen.
Der Grund? Der Besuch findet vor dem Hintergrund einer globalen Transformation der gesamten vertrauten Weltordnung statt, in der geopolitische Spannungen beispiellose Herausforderungen in der internationalen Diplomatie, Sicherheit, Wirtschaft, Ernährungssicherheit, Umwelt und anderen Bereichen darstellen. Deutschland hat sich auf die Suche nach neuen Partnern begeben, um seine Außenpolitik, seine Wirtschaftsbeziehungen und seine Handelsketten zu diversifizieren, wobei eine der Prioritäten darin besteht, die Zusammenarbeit mit Kasachstan zu überdenken und zu vertiefen.
Außerdem ist es das erste Mal in der Geschichte unseres Landes, dass ein westlicher Politiker von solchem Rang, der Chef einer der führenden Volkswirtschaften Europas und der Welt, neben der Hauptstadt auch das Gebit Mangistau besucht. Mangistau spielt eine Schlüsselrolle in den sich abzeichnenden Verkehrs- und Logistikbeziehungen zwischen Ost und West im Rahmen des so genannten Mittleren Korridors. Die dortigen Infrastrukturprojekte könnten zu wichtigen Elementen der Global-Gateway-Strategie der Europäischen Union werden, die bis 2027 rund 300 Milliarden Euro zur Finanzierung solcher Initiativen vorsieht.
Stimmt es, dass die Frage der dualen Ausbildung und der Qualität der Bildung auch auf dem Weg zur Vertiefung der kasachisch-deutschen Beziehungen im Mittelpunkt steht?
Richtig. Das Programm des Besuchs umfasst eine Reihe spezifischer Wirtschaftsveranstaltungen – in Astana werden ein kasachisch-deutsches Wirtschaftsforum und ein Symposium der Rektoren kasachischer und deutscher Universitäten stattfinden. Darüber hinaus wird der Ehrengast im Westen des Landes ein gemeinsames Vorzeigeprojekt einleiten – die Vorbereitungsphase für den Bau eines Komplexes zur Herstellung von grünem Wasserstoff der Firma Svevind im Wert von bis zu 50 Mrd. US-Dollar – und das Kasachisch-Deutsche Institut für Ingenieurwesen auf der Grundlage der Jesenow-Universität eröffnen. Das Institut wird kasachische Spezialisten in den Bereichen Logistik und Wasserstoffenergie für zukünftige Gemeinschaftsunternehmen ausbilden. Auf diese Weise werden neue Wachstumspunkte geschaffen, um die fruchtbare und für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit mit der BRD weiter auszubauen.
Was ist Kasachstan bereit, seinen deutschen Partnern zu bieten?
Unsere Volkswirtschaften sind in vielerlei Hinsicht komplementär. Deutschland verfügt über ein enormes industrielles und innovatives Potenzial, deutsche Produkte sind in der ganzen Welt für ihre Qualität bekannt, und die deutsche Wirtschaft ist für ihre Zuverlässigkeit und Integrität bekannt. Ihr weiteres Wachstum wird jedoch derzeit durch natürliche geografische, demografische und soziale Grenzen eingeschränkt. Gleichzeitig verfügen wir über beträchtliche Rohstoffressourcen, zugängliche Energie, relativ billige, aber qualifizierte Arbeitskräfte, große freie Gebiete und eine günstige Lage.
Der Grundstein für eine konstruktive Zusammenarbeit nach der Formel „Rohstoffe für Technologie“ wurde bereits 2012 gelegt. Damals war ich als erster Botschafter Kasachstans in Deutschland an der Entwicklung und anschließenden Unterzeichnung eines Abkommens zwischen den Regierungen Kasachstans und Deutschlands über eine Partnerschaft in den Bereichen Rohstoffe, Industrie und Technologie beteiligt. In diesem Dokument wurden die wichtigsten Ansätze für die Entwicklung der bilateralen Zusammenarbeit formuliert, und heute hat es einen zweiten Atemzug erhalten.
Kasachstan leistet zum Beispiel schon heute einen wichtigen Beitrag zur Energiesicherheit Deutschlands. Im vergangenen Jahr hat Deutschland 8,2 Millionen Tonnen kasachisches Öl gekauft – ein Zehntel seiner gesamten Ölimporte – und damit den vierten Platz unter den Lieferanten eingenommen. Darüber hinaus haben wir auf Wunsch der deutschen Seite Anfang 2023 begonnen, die Raffinerie in Schwedt über die Erdölfernleitung Druschba mit Öl zu versorgen. Damit tragen wir dazu bei, dass die Raffinerie, die 90 Prozent des Berliner und den weitaus größten Teil des Brandenburger Bedarfs an Benzin, Diesel und Düsentreibstoff deckt, in Betrieb bleibt.
Kasachstan beabsichtigt, mit der Bundesrepublik auch im Bereich der grünen Energie zu kooperieren?
Die wichtigsten Exportgüter Kasachstans sind Metalle, Kohle und landwirtschaftliche Produkte. Aber Kasachstan hat alle Voraussetzungen, dass Deutschland in Zukunft einer der führenden Lieferanten für den Treibstoff der Zukunft – grünen Wasserstoff – wird. Es ist kein Zufall, dass eines der wichtigsten praktischen Ergebnisse des Besuchs der deutschen Außenministerin Annalena Berbock in Kasachstan im Oktober 2022 die Eröffnung des Büros für Wasserstoffdiplomatie in Astana durch Deutschland war.
Deutschland befindet sich in einer aktiven Phase des Übergangs zu einer ökosozialen Marktwirtschaft – die Energiewende wird bundesweit umgesetzt. Im ersten Quartal dieses Jahres lag der Anteil der erneuerbaren Energien (EE) am gesamten Stromverbrauch bei 50 Prozent. Bis 2030 soll dieser Anteil auf mindestens 80 Prozent steigen – das bedeutet eine Abkehr von konventionellen fossilen Energieträgern. Auch der Energieeffizienz wird ein hoher Stellenwert eingeräumt: Der Primärenergieverbrauch lag 2020 um 17 Prozent niedriger als 2008, und bis 2050 soll er um 50 % gesenkt werden.
Darüber hinaus wird die Modernisierung nach dem Energiesektor auch fast alle anderen Sektoren betreffen. Projekte zur Herstellung von grünem Stahl und grünen Chemikalien sind bereits angelaufen. Bis 2021 konnten die jährlichen Treibhausgasemissionen dank ehrgeiziger Anstrengungen um fast 40 Prozent gegenüber 1990 gesenkt werden. Bis zum Jahr 2040 soll die Emissionsminderung 88 Prozent betragen und bis 2045 wird die Bundesrepublik Deutschland bereits klimaneutral sein. Damit ist Deutschland sogar dem Grünen Pakt der EU voraus, der das Ziel hat, Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen. Deutsche Technologie und Maschinen spielen eine wichtige Rolle bei der Modernisierung des industriellen Potenzials unseres Landes – rund 90 Prozent der deutschen Investitionen fließen in den Nicht-Rohstoffsektor.
Unter den gegenwärtigen geopolitischen Bedingungen haben sich die direkten Geschäftsbeziehungen und Lieferungen zwischen Europa, einschließlich der BRD, und Kasachstan noch weiter ausgebaut. Nach deutschen Statistiken hat sich das Volumen des bilateralen Handels mit unserer Republik von 5,1 Milliarden Euro im Jahr 2021 auf 9,7 Milliarden Euro im vergangenen Jahr fast verdoppelt. Diese hohe Wachstumsrate – über 90 Prozent – ist sowohl auf das physische Wachstum des beiderseitigen Handels als auch auf die Umstrukturierung der Handelsketten von einer vermittelten Verteilung über Russland zu einer direkten Lieferung zurückzuführen. Auf Kasachstan entfallen fast 83 Prozent bzw. fünf Sechstel des gesamten deutschen Handels mit den zentralasiatischen Staaten.
Steht ein kompletter Reset bevor?
Kasachstan hat eine hervorragende Chance, durch eine fruchtbare Zusammenarbeit mit Deutschland einen erheblichen Multiplikatoreffekt für die gesamte Wirtschaft zu erzielen. Für die richtige Wahl des eigenen Kurses sollte unser Land jedoch das deutsche Beispiel nutzen, um die Richtung und Tendenzen der weiteren Entwicklung der fortgeschrittenen Länder zu studieren. Die Energiewende ist keine vorübergehende politische Agenda nur für Deutschland, sondern ein globaler, objektiver, langfristiger Trend, auf den wir uns jetzt vorbereiten und auf dessen Folgen wir uns einstellen müssen.
Wenn Europa und andere Industrieländer auf grüne Energie, auf einen geschlossenen Kreislauf der Mehrfachnutzung „grüner“ Ressourcen umsteigen, wird sich das „Fenster der Gelegenheit“ für Kasachstan schließen, seine derzeitigen Wettbewerbsvorteile beim Verkauf von Kohlenwasserstoffen, Metallen und anderen Mineralien zu nutzen. Für den Übergang zu einer grünen Wirtschaft müssen schon heute konkrete praktische Schritte unternommen werden, die auf den Erfahrungen und der Zusammenarbeit mit Vorreitern auf diesem Gebiet, wie Deutschland, aufbauen. In diesem Zusammenhang plant Präsident Steinmeier, eine Reihe vielversprechender Projekte in den Bereichen Energie, Bergbau, Verkehr und Logistik sowie Landwirtschaft zu erörtern und die Zusammenarbeit in den Bereichen Wissenschaft, Bildung und Verbesserung des Humankapitals zu verstärken.
Zusammenfassend möchte ich das enorme Potenzial und die Perspektiven für die Zusammenarbeit im gesamten Spektrum der kasachisch-deutschen Beziehungen hervorheben. Ich bin zuversichtlich, dass der Staatsbesuch von Bundespräsident Steinmeier der umfassenden Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern zum Wohle unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger zusätzliche Impulse geben wird.
Danke für das aktuelle Gespräch.
Das Interview führte Marina Angaldt.
Übersetzung ins Deutsche: Annabel Rosin.