Ein deutscher Journalist über die Frage, warum Geschichte oft der Politik zum Opfer fällt

Artur Weigandt stammt aus Uspenka in Kasachstan. Die Siedlung, hundert Kilometer nordöstlich von Pawlodar, wurde 1909 gegründet. Die ersten deutschen Kolonien von Mennoniten, Lutheranern und Baptisten, Einwanderern aus den Provinzen Jekaterinoslaw, Tauris und Cherson sowie aus der Donarmee und der Schwarzmeerregion, entstanden hier Ende des 19. und Anfang des 20 Jahrhunderts. In den 1940er Jahren wurde das Gebiet durch eine beträchtliche Anzahl von deportierten Deutschen von der Wolga, der Krim und dem Kaukasus bereichert. In den folgenden Jahren kam es zu einer Vermischung von Dialekten, Akzenten der deutschen Sprache und konfessioneller Zugehörigkeit.

Die ethnische Konsolidierung in den 1980er Jahren wurde durch die Aufregung der Perestroika, die Öffnung des Eisernen Vorhangs und die Massenauswanderung abgelöst. In den 1990er Jahren, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, traten die ehemaligen Republiken in eine langanhaltende Krise ein; mit Arbeitslosigkeit, finanziellen und anderen Schwierigkeiten, die fast jeden betrafen. Die Familie Weigandt aus Uspenka war da keine Ausnahme. Arturs Eltern trafen die schwierige Entscheidung, den anderen in die BRD zu folgen.

Artur Weigandt wuchs eigentlich in Deutschland auf. Nach dem Abitur studierte er Ästhetik in Frankfurt am Main und Journalistik an der Deutschen Journalistenschule in München. Er wurde sogar zu einem der dreißig besten Journalisten des Jahres 2021 gewählt (Medium-Magazin, eine unabhängige Fachzeitschrift für Journalisten aller Genres, gegründet 1986). Doch Artur vergisst nie seine Heimat: Sein Buch „Die Verräter“ (erscheint 2023 bei Hanser Berlin) erzählt die Geschichte seines geliebten Uspenka, des Untergangs der Sowjetunion und vieles mehr. Ich beschloss, mit Artur über seine beruflichen Aktivitäten, kontroverse historische Themen und dringende soziale und politische Ereignisse der Gegenwart zu sprechen.

Artur, was denken die Menschen in Deutschland über den Tag des Sieges und was wissen die Deutschen noch über die Nazizeit?

Am 8. Mai 1945 kapitulierte Nazi-Deutschland offiziell im Zweiten Weltkrieg. In der Bundesrepublik Deutschland wird dieser Tag als Tag des Sieges in Europa und als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus empfunden. Er wird mit einer großen Verbeugung vor den Freiheitskämpfern gefeiert. Übrigens habe ich das starke Gefühl, dass der 8. Mai in Deutschland auch als Tag der Selbstbefreiung – der inneren Freiheit des Einzelnen – angesehen wird. Schließlich waren die meisten Menschen in Deutschland in den 1930er Jahren mit der Diktatur Hitlers einverstanden.

Der Sieg im Zweiten Weltkrieg wurde mit dem Leben von Millionen Menschen erkauft. Wir sprechen nicht nur von denen, die in den Schlachten starben, sondern auch an der Heimatfront und in den Lagern. Manche sagen sogar, dass die stalinistischen Repressionen notwendig waren… Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach der Gulag im politischen System der Sowjetunion?

Die stalinistischen Repressionen und der Gulag waren sicherlich nicht notwendig. Ein Staat, der seine Bürger mit Anstand und Respekt behandelt und ihre Rechte und Freiheiten berücksichtigt, besteht auf der Umsetzung ausschließlich universeller Werte.

Meine Meinung: Hätte die sowjetische Regierung nicht ein groß angelegtes Gulag-System unterstützt, hätte es wahrscheinlich weniger Überläufer und Kollaborateure gegeben – Verräter, die auf der Seite der Nazis gegen die Sowjetunion gekämpft haben. Es wird oft gesagt, dass autoritäres Handeln in schwierigen oder kriegerischen Zeiten unerlässlich ist. Daran habe ich meine Zweifel. Die universellen menschlichen Werte müssen immer hochgehalten werden, und die Menschen müssen glauben dürfen, dass sie immer triumphieren werden.

Zwangsdeportation und Repression auf Grund der Herkunft – was ist das aus Ihrer Sicht? Wofür wurden Hunderttausende nicht verurteilte Sowjetdeutsche in der Arbeitsarmee bestraft?

Es war ein Verrat an Hunderttausenden unschuldiger Menschen. Die höheren Behörden in Moskau waren oft gleichgültig gegenüber den Bestrebungen des einfachen Volkes, das als machtloses, entbehrliches Arbeitsmaterial angesehen wurde. Die Deportation war eine Frage der maximalen und freien Ausbeutung des Volkes.

Warum ist die Geschichte Ihrer Meinung nach oft ein Opfer der Politik?

Im Schatten aller Kriege und der Politik stehen diejenigen, die persönlich von ihnen profitieren. Ein Ende der Kriege ist also unwahrscheinlich… Krieg und Politik sind die beiden einflussreichsten „Werkzeuge“, wenn ich das so sagen darf, die die öffentlichen Massen beeinflussen. Die Geschichte wurde schon immer korrigiert, also umgeschrieben. Sie wird immer noch umgeschrieben, und offenbar wird dieser Prozess weitergehen. Das ist Populismus. Wie die Lebenspraxis zeigt, ist dies ein wirksames Mittel, um die Gedanken der Bevölkerung zu kontrollieren… Zu den jüngsten Ereignissen gehören beispielsweise die Umbenennung von Wolgograd in Stalingrad am Tag des Sieges und die Aufstellung eines Stalin-Denkmals, obwohl der Stalin-Kult nach seinem Tod von Chruschtschow entlarvt wurde.

Was macht Ihrer Meinung nach die menschliche Gesellschaft krank? Ist die aktuelle Weltpolitik eine Bedrohung für die Menschen?

Die Unfähigkeit, nach vorne zu schauen und sich der Wahrheit zu stellen. Wir übersehen ständig viele Dinge: die Klimakrise, Kriege, Hungersnöte… Daher das falsche Weltbild. Aber wenn man die Welt mit offenem Geist betrachtet, sieht man, wie tief wir in die Probleme hineingeraten sind, die wir geschaffen haben. Aber wozu?

Wen bezeichnen Sie in Ihrem Buch „Die Verräter“ als Verräter?

Es geht um diejenigen, die ihre eigenen Wurzeln verraten haben… Was explizit und überall verraten wird: die Geschichte, die Kultur, die Identität ganzer Völker. Weißrussen, Russen, Deutsche, Ukrainer, Georgier, Mongolen, Kasachen und andere ethnische Gruppen mussten sich völlig an die UdSSR anpassen, ihre Vergangenheit vergessen, teilweise sogar ihre Sprache. Ich denke, dass der Verrat in der sowjetischen und postsowjetischen Geschichte allgegenwärtig ist. Dies ist meine Meinung.

Sie wurden in Uspenka geboren, wo zu Sowjetzeiten viele Deutschstämmige lebten. Wie hat sich diese Tatsache auf Ihre Identität ausgewirkt?

Mein Uspenka ist nicht nur ein „deutsches Dorf“. Es ist ein sowjetisches Dorf und eine kleine Hochburg einer Art von Kosmopolitismus. Menschen vieler Nationalitäten lebten dort in Frieden und Freundschaft. In der UdSSR gab es viele solcher „Uspenkas“. Mein Vater zum Beispiel hatte russisch-deutsche Wurzeln, meine Mutter war Weißrussin und Ukrainerin. Das letzte Mal war ich vor etwa zwölf Jahren in meiner Heimat. Das Buch basiert ausschließlich auf meinen eigenen Erinnerungen, daher ist mein Uspenka vielleicht eine leicht geschönte, veränderte Realität von damals.

Sie vergleichen das Leben in einem sowjetischen multinationalen Dorf mit dem Kosmopolitismus, d.h. der Ideologie der Weltbürgerschaft, bei der die Interessen der gesamten Menschheit höher stehen als die einer einzelnen Nation. Ist der Kosmopolitismus also ein Verrat an den eigenen Wurzeln?

Kosmopolitismus ist die Anerkennung der eigenen Wurzeln, wenn man die Welt betrachtet. Unsere unterschiedlichen Traditionen und Überzeugungen können sich auf der internationalen Bühne ergänzen, und wenn jeder von uns die Grenzen des anderen akzeptiert, wird die Welt harmonischer und besser werden.

Ist es wichtig, sich an die Ereignisse von 1939-1945 zu erinnern? Welche Lehren sollten wir alle daraus ziehen?

Es ist definitiv wichtig und notwendig, sich zu erinnern. Wen wir uns an diese Zeit erinnern und sie richtig verstehen würden, hätten wir nie zugelassen, was seit einiger Zeit in der Ukraine geschieht. Leider zeigt das Leben, dass wir aus der Geschichte nicht viel lernen können. Die Vergangenheit wird von menschlichen Gehirnen schlecht verstanden – sie wird vergessen, ihr wird nicht die gebührende Bedeutung beigemessen. Und deshalb wiederholt sie sich immer und immer wieder. Ich glaube, wir haben nichts gelernt.

Was verändert Ihre Sichtweise auf das Leben regelmäßig? Oder ist sie konstant?
Die Aufgabe eines Journalisten ist es, ständig auf Fakten und Ereignisse zu reagieren. Diesen ständigen Veränderungen muss ich zwangsläufig ausgesetzt sein. Die Welt verändert sich, und das Leben verändert sich mit ihr. Bewusst und unbewusst bin ich immer bereit für etwas Neues.

Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit.

Das Interview führte Marina Angaldt.

Übersetzung ins Deutsche: Annabel Rosin.

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