Wie die Familie Sonberg aus Ust-Kamenogorsk Volkskunst aus den Tiefen der Jahrhunderte wiederbelebt und bewahrt.
In Zeiten, in denen es weder Erde noch Himmel gab, sondern nur einen riesigen Ozean, wie die ganze grenzenlose Steppe, blitzte das größte weiße Licht auf. Und im ganzen grenzenlosen Raum gab es nichts, was ihm gleichkam. Aus dem Weißen Licht wurde ein leuchtendes Ei geboren, unter dessen goldener Schale der reiche Mann Tengri – der Stammvater aller Dinge – einen tiefen und fast ewigen Schlaf hielt. In seinem Schlaf begriff die titanische Gottheit die Feinheiten der Weltstruktur, langweilte sich und wachte auf: Ein Blitz zerfetzte die Schale und entkam.
Tengri schuf aus dem oberen Teil der Eihülle das himmlische Gewölbe und aus dem unteren Teil das irdische Firmament. Zwischen Himmel und Erde errichtete der allmächtige Gott Temirkasyk den himmlischen Pfahl – den Polarstern. Daran befestigte der reiche Mann sorgfältig die Sterne, Sternbilder und wilden himmlischen Pferde, die unermüdlich durch das Himmelsgewölbe laufen.
So ungefähr klingt die alte türkische Legende über die Erschaffung der Welt, die sich in den komplizierten Wellen-, Geraden- und Spiralmustern des Kunsthandwerks des kasachischen Volkes widerspiegelt. Nationale Ethnie erfreut sich heute größter Beliebtheit; sie verleiht der gegenwärtigen Realität einen dynamischen, archaischen Touch.
Faszinierende und geheimnisvolle zoomorphe Bilder und ornamentale Darstellungen, die mit heiligen Naturkräften, Sonnen- und Mondmythen verbunden sind, werden in den Kontext der Moderne stilisiert. Die Betonung der Ethnizität in der Kleidung oder in der Inneneinrichtung ist nicht nur ein ungewöhnliches Merkmal der ursprünglichen Ästhetik, sondern heute ein Modetrend.
Pedanterie, Akribie, strenge Ordnung und harte Arbeit
Anton und Marina Sonberg aus Ust-Kamenogorsk sind Kenner der modischen nationalen Identität. Die Früchte ihrer gemeinsamen Kreativität sind originelle und ausdrucksstarke Beispiele der dekorativen und angewandten Kunst, in denen die traditionellen Merkmale verschiedener Nationen der Welt deutlich zu erkennen sind. Die Sonbergs haben sich auch auf Produkte mit kasachischen Motiven spezialisiert und stellen auf Nachfrage einzigartige Holzutensilien für die Seele her: geschnitzte Tafeln, Schatullen, Tabletts, Magnete und andere Souvenirs. Die Werke der Handwerker aus Ust-Kamenogorsk, die mit Schnitzereien, Chochloma-Malerei, turkischen Ornamenten, Arabesken und anderen dekorativen Feinheiten verziert sind, finden sich unter den Exponaten des örtlichen regionalen Geschichts- und Heimatmuseums und auf Ausstellungen.
Anton ist von Beruf Gas-Elektro-Schweißer, in seiner Freizeit schnitzt und brennt er Skulpturen. Seine Frau Marina ist eine ausgebildete Künstlerin. In der Familie ist sie die Hauptinspiratorin für die Erhaltung und Popularisierung des ursprünglichen Kulturerbes. Die begabte Kunsthandwerkerin bemalt Holzprodukte von Hand, zeichnet saubere Linien heiliger Muster darauf und verleiht dem Werk die gewünschte Farbgebung.
„Die Liebe zur Arbeit wurde mir von Kindheit an in die Wiege gelegt. Ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen – deutsche Pedanterie und Akribie, strenge Ordnung, harte Arbeit und Fleiß standen an erster Stelle: ‚Ordnung muss sein‘, und nicht anders! Mein Großvater hatte eine Leidenschaft für Kunsthandwerk: Er fertigte Souvenirs aus Weidenholz“, sagt Anton. „Ich habe mich auf Anregung meiner Frau für das Kunsthandwerk entschieden. Als sie im Mutterschaftsurlaub war, begann sie sich wieder für das Zeichnen zu interessieren. Zur gleichen Zeit begannen wir auf Wunsch von Freunden mit der Herstellung von Souvenirmagneten für den Kühlschrank: Ich sägte Rohlinge aus Sperrholz und Marina bemalte sie. Die Magnete sind stilvoll und interessant geworden.“
Regionales Handwerkerfestival in Ust-Kamenogorsk
Die Sonbergs diskutieren und begreifen die kompositorischen und technologischen Lösungen zukünftiger Produkte gemeinsam: Mit Akribie vertiefen sie sich in das Studium von Volkslegenden, wühlen sich durch Schichten von enzyklopädischen Informationen über die kulturellen und alltäglichen Besonderheiten einer bestimmten Region und lassen sich vom Charme der Geschichte und der Universalität folkloristischer Muster inspirieren.
„In unserer Arbeit versuchen wir, auf die Stilisierung zu achten: Wir gehen von den Ursprüngen zur Moderne, von den Klassikern zur Innovation“, betont Anton. „Wir binden Jugendliche in das Kunsthandwerk ein und veranstalten im deutschen Kulturzentrum ‚Wiedergeburt‘ von Ostkasachstan Kurse zur Herstellung von Souvenirs aus Holz.“
In Ust-Kamenogorsk fand anlässlich des Tages der Hauptstadt sowie des Tages der Dombra das regionale Handwerkerfestival „Souvenir des Ostens“ statt. Vergangenes Wochenende konnte man die Schönheit und Eleganz des Kunsthandwerks der kasachstanischen Meister im Kaisenow-Park sehen. Anton und Marina Sonberg waren unter den Teilnehmern der Veranstaltung. Die Künstler wollten dabei andere sehen und auch sich selbst zeigen.
Marina Angaldt
Übersetzung: Annabel Rosin