Tom Zurbuchen ist deutscher Student und macht aktuell ein Auslandssemester an der Nazarbayev Universität (NU) in der kasachischem Hauptstadt Astana. Im Gespräch mit uns schildert er seine Erfahrungen, die er während seiner Planung und anschließend in Zentralasien selbst gemacht hat.
Bevor ich nach Kasachstan gekommen bin, habe ich in Jena zehn Semester in einem Lehramtsstudiengang studiert, um Gymnasiallehrer für die Fächer Geographie und Russisch zu werden. In diesem Studium bin ich sehr weit vorgeschritten und nach meinem Auslandssemester in Kasachstan ist der Abschluss mit dem 1. Staatsexamen geplant.
Ich studiere jetzt von August bis Dezember 2024 in einem Auslandssemester in Astana an der Nazarbayev Universität (NU) und bin im Masterstudiengang „Eurasian Studies“ immatrikuliert. Da meine Interessen aber hauptsächlich im Bereich Bildung und insbesondere Fremdsprachenpädagogik liegen, habe ich mich direkt zu Beginn des Semesters auch an der GSE (Graduate School of Education) an der NU im Masterstudiengang „Multilingual Education“ angemeldet. Die Unterrichtssprache ist Englisch.
Die Gesellschaft und das öffentliche Leben sind mehrsprachig: hauptsächlich auf Kasachisch und Russisch. Die Universität hat ein international ausgerichtetes Standbein, an dem viele ausländische Professor*innen und Lehrende vertreten sind, und sie genießt im gesamten Land ein sehr hohes Ansehen. Auch aus meiner Sicht ist die Qualität des Lehrbetriebs an dieser Universität hervorragend.
Über den Zulassungsprozess:
Tatsächlich war der Zulassungsprozess recht kurzfristig, aber auch recht hektisch, chaotisch und teilweise sogar zufallsgetrieben. Für den 1. August 2024 war mein Flieger nach Astana bereits gebucht, als für mich die Planungsphase im April 2024 begann. Das waren vier Monate voller Unsicherheit und vielen Fristen und Terminen, die sämtlich nur in letzter Minute eingehalten wurden.
Beispielsweise kam meine Einladung vom Migrationsdienst aus Kasachstan für das Visum erst in der Nacht vor dem letztmöglichen Antragstermin beim Konsulat an. Und um das Visum zu beantragen, musste ich quer durch Deutschland nach München fahren. Viele Planungsschritte waren auch mit hohen Kosten verbunden, die wir zunächst auslegen mussten – ein ungutes Gefühl, da wir bis zur letzten Minute keine endgültige Sicherheit über die tatsächliche Realisierung des Auslandsaufenthaltes hatten. Schlussendlich konnten wir doch alles gerade so rechtzeitig organisieren.
In den ersten Tagen in Astana war erneut viel Organisationstalent gefragt, da wir als Austauschstudierende nicht über den üblichen systematischen Anmeldeprozess der Universität aufgenommen wurden, sondern sämtliche Schritte manuell durch verschiedene Verantwortliche durchgeführt werden mussten. Aber auch diese Hürde war nach einer Woche überwunden und hat nicht nur uns, sondern auch die Universität reichlich gefordert. Dabei bleibt für die Zukunft und weitere Kurzaufenthalte von Studierenden nur zu hoffen, dass unsere Erfahrungen künftig bei der Optimierung von Anmeldeabläufen förderlich sein und aktiv genutzt werden.
Über Vorurteile im Zusammenhang mit Kasachstan:
Natürlich hatten meine Freunde, Eltern und alle Personen, die von meinem Vorhaben wussten, Vorurteile. Vorurteile sind menschlich: sie helfen uns, unsere komplexe Welt zu strukturieren und zu vereinfachen, damit man den Überblick behält. Aber sie haben auch Einfluss auf unser Verhalten gegenüber anderen. Und wenn das passiert, ist der Zeitpunkt gekommen, um einzugreifen: als Reaktion auf die eigene Selbstwahrnehmung oder auf die Wahrnehmung durch Außenstehende. Wie man vielleicht merkt, ist mir dieses Thema sehr wichtig. Und hier liegt ein weiterer Grund, weshalb ich nach Kasachstan gereist bin: Erfahrungen.
Erfahrungen verändern unseren Standpunkt, unsere Position auf der Welt, unsere Blickwinkel und Perspektiven. Wenn man das verstanden hat und bereit ist, Erfahrungen zu machen, sich aktiv mit sich und der Welt auseinanderzusetzen, dann wird man seine Vorurteile erkennen können und lässt sie nicht länger das eigene Verhalten bestimmen. Diesen Ansatz möchte ich als Take-Home-Message mit nach Deutschland bringen und in meinem Freundes- und Bekanntenkreis sowie vielleicht auch bald Schüler*innen vorleben.
Ich hatte die Möglichkeit, in Kasachstan einer Wirklichkeit zu begegnen, die meinen Vorurteilen kritisch gegenübersteht. Nachdem nun der wesentliche Teil meiner Zeit hier verstrichen ist, kann ich sagen, dass dieser Ausschnitt der Wirklichkeit, den ich hier kennenlernen durfte, dazu geführt hat, dass sich mein Blick auf Kasachstan und damit auch mein Vorverständnis verändert hat.
Über den Besuch in Usbekistan:
Durch den Umstand, dass Usbekistan und Kasachstan Nachbarstaaten sind, haben sie viele Gemeinsamkeiten. Nichtsdestotrotz gibt es fundamentale Unterschiede. Bei meinem kurzen viertägigen Aufenthalt in Usbekistan ist mir die große Bedeutung des internationalen Tourismus für die usbekische Wirtschaft aufgefallen. Zwar habe ich auch in Kasachstan bemerkt, wie wichtig der Tourismus ist, aber dort beschränkt er sich hauptsächlich auf inländische Touristen und Reiseziele beschränkt. Ebenfalls ist mir aufgefallen, dass Russisch zwar auch in Usbekistan als Mittel zur Kommunikation genutzt werden kann, aber nicht die gleiche Ausprägung als Lingua Franca wie in Kasachstan besitzt.
Was in Kasachstan überrascht hat:
Direkt nach der Ankunft war ich erstaunt, über die fortschrittliche Digitalisierung des öffentlichen Raums und die Serviceorientierung von Dienstleistungsunternehmen (z.B. bezogen auf Servicezeiten, Antwortgeschwindigkeit auf Anfragen, Lösungsorientierung bei Problemen). Aus der Servicewüste Deutschland kommend und daher gewohnt, mitunter keine Antwort auf Serviceanfragen zu bekommen, hatte ich nicht mit einem solchen Dienstleistungsangebot in Kasachstan gerechnet.
Erschrocken war ich über die auffällig häufige (teilweise gar dauerhafte) Nutzung des Handys im Leben der Menschen und den Konsum von digitalen Unterhaltungsangeboten in sämtlichen Situationen. Dazu zählt auch das Autofahren. Es ist für junge Leute in Kasachstan keine Seltenheit, drei Handys simultan zu nutzen. In Deutschland ist dieser Trend leider auch zu beobachten, aber dort ist er bei Weitem nicht so ausgeprägt. Beim Autofahren haben wir Deutsche einfach ein höheres Sicherheitsbedürfnis und das finde ich in den meisten Fällen auch gut so.
Positiv überrascht war ich über die Einstellung zu Kleinkind, Familie und Freizeit: Kinder sind sehr lange im Stadtbild zu sehen (bis weit nach 23 Uhr) und genießen ausgeprägte gesellschaftliche Akzeptanz (z.B. laut spielend im Restaurant zwischen anderen Gästen). Für mich ist das ein Indiz dafür, dass Freizeit- und Privatleben nicht um das Kind herum konstruiert und arrangiert werden, sondern das Kind Teil dessen und somit der Gesellschaft ist. Hierin sehe ich einen großen Unterschied zwischen Kasachstan und Deutschland.
Über das Niveau der russischen Sprache:
Ich kann sagen, dass sich mein Niveau der russischen Sprache während des Aufenthaltes hier ausgebaut und gefestigt hat. Insbesondere in Alltagssituationen und bei gewöhnlichen Kommunikationsthemen fühle ich mich bedeutend sicherer. Jedoch finde ich, dass es etwas ungünstig ist, dass die Unterrichtssprache an der Universität ausschließlich Englisch ist und es nur universitäre Russisch-Sprachkurse gibt, die auf freiwilliger Basis am Abend organisiert werden. Mit anderen Studierenden kann man zwar in der Freizeit Russisch reden, aber man ist trotzdem nicht wirklich in einem russischsprachigen Umfeld. Wenn man ausschließlich in der Universität bleibt, die mehr oder weniger von der Stadt abgeschottet ist, entzieht man sich (unfreiwillig) der Sprache. Im Sommer und Herbst war das Verlassen der Universität keine Hürde, aber mit zunehmend ungemütlicherem Wetter kostet es schon viel Überwindung, den Universitätscampus zu verlassen. Dieser ist so konstruiert, dass er alle kurz- und langfristigen Bedürfnisse abdeckt und somit keine Notwendigkeit bietet, dass man ihn verlassen muss. Dazu kommt, dass es auch einfach kognitiv sehr anstrengend ist, tagsüber zwischen drei Sprachen zu wechseln.
Lustige Situationen gab es auf jeden Fall einige. Am lustigsten waren die vielen Reaktionen, als wir anfingen Russisch zu sprechen. Ich gehe davon aus, dass aufgrund unseres Erscheinungsbildes und Auftretens schlichtweg nicht damit gerechnet hatte, dass wir Russisch können. Die Reaktionen waren divers: oft wurde ins Englische gewechselt, uns ein englischsprachiges Menü gebracht oder angeboten, auch Englisch sprechen zu können, alles einhergehend mit kompletter Verwunderung, dass wir auf Russisch sprechen.
In vielen Fällen entwickelten sich daraus interessante Gespräche. Wiedererkennungswert in einigen Lokalitäten haben wir hier auf jeden Fall.
Über den Einfluss Kasachstans auf Toms Leben:
Kasachstan ist bereits ein großer Teil meines Lebens geworden. Es fing mit der intensiven Planungsphase an, die dann in einmaligen Erfahrungen gipfelte, die ich während des Aufenthalts sammeln durfte. Neben zahlreichen neuen Freunden, Fortschritten in akademischem Englisch und einem großen Zuwachs an konversationsnützlichem Russisch hatte ich auch das Privileg, zahlreiche Teile des Landes bereisen zu dürfen.
Darüber hinaus beeindruckten mich die vielen, teilweise ambivalenten Geschichten, Erzählungen und Kommentare von den Menschen aus Kasachstan auf meine Fragen zu Mehrsprachigkeit in einer multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft.
Wir in Deutschland geben in vielen Handlungsfeldern vor, monolingual zu sein, sind es aber schon lange nicht mehr (und waren es auch nie). Der Inklusionsanspruch, der in Deutschland heute präsenter ist als je zuvor, kann nicht mit dieser monolingualen Mentalität beantwortet werden. Und speziell in diesem Punkt kann uns Wissen und Expertise aus Kasachstan aus einer postkolonialen Perspektive helfen, weil sich die heutige deutsche Gesellschaft und die heutige kasachstanische Gesellschaft auf völlig verschieden historischen Fundamenten gebildet haben. Diese Erfahrungen nehme ich mir als Rüstzeug mit nach Deutschland, um sie für mich insbesondere in der Schule nutzbar zu machen und um auf neue und alte Herausforderungen in Fragen der Inklusion reagieren zu können.