Die bewegende Geschichte des Deutschen Theaters in Kasachstan endete nicht, wie man vermutete, nach der Auswanderung des kompletten ersten Ensembles nach Deutschland. Doch deren Nachfolger waren mit gewaltigen Herausforderungen konfrontiert.
Mitte der neunziger Jahre übernahmen Absolventen des deutschen Studios der Theaterhochschule in Almaty die deutsche Bühne und entwickelten eine völlig neue schöpferische Konzeption. Der Unterschied zu den früher bekannten Entwicklungspunkten machte sich schnell bemerkbar. Laut Entwurf der Leitung sollte die Spielstätte auch weiterhin im Dienste der deutschen Diaspora im Lande stehen und durch ihre Inszenierungen die frühere Anerkennung des Theaters zurückgewinnen. Das junge künstlerische Team wollte sich aber nicht mehr nur im nationalen Aufgabenkreis bewegen, sondern diesen Rahmen überschreiten und dadurch das kasachische Theaterleben mit moderner europäischer Theaterkultur bereichern.
Angesagt waren Innovation, Kompetenz, Erweiterung der inneren Grenzen sowie starke kulturelle Verpflichtungen nach außen. Das Theater nahm sich vor, einen Schauplatz aufzubauen, der das gesamte Spektrum darstellender Künste vereinen sollte und nicht nach vorgeschriebenen Regeln funktionieren würde. Bereits die ersten Aufführungen zeigten, dass das Konzept eisern eingehalten wurde: gewagte Pläne, kühne Experimente und die dramaturgische Umsetzung der Bühnenwerke erregten die Aufmerksamkeit des leicht verwöhnten Publikums der damaligen Hauptstadt Almaty. Mit seinen Neuerungen eroberte das Deutsche Theater die städtische Elite, die erneut den Weg zu ihm suchte. Die einen kamen aus Neugier, die anderen aus Skepsis, doch die ausverkauften Vorstellungen galten als bester Beleg dafür, dass die Grundlinie des Theaters stimmte.

Natascha Dubs, die in dieser Zeit von der Truppe zur Chefregisseurin und Direktorin ernannt wurde, musste sich ab sofort um den weiteren Erhalt des Ensembles sorgen und vernünftige Bedingungen für das schöpferische Bestehen des Deutschen Theaters in Kasachstan schaffen. Jahrelang besorgte sie Proberäume und Bühnen für die Auftritte, inszenierte neue Aufführungen und unterrichtete gleichzeitig an der staatlichen Theaterhochschule Schauspielkunst.
Schauspieler als tragende Säule des Erfolgs
Wie hat sie das geschafft? – „Theater ist mein Beruf und mein Leben. In meiner Arbeit stütze ich mich auf meine Erfahrung, mein Wissen und auf eigene Intuition. Und ich bin allen Menschen dankbar, dass sie das Theater und mich in all diesen Jahren unterstützten“ – so ihre Antwort.
Indessen weitete sich der Freundeskreis des Theaters aus – die Selbstorganisation der Deutschen Kasachstans, das Goethe-Institut Almaty, das Deutsche Generalkonsulat in Almaty, die Deutsch-Kasachische Universität und viele andere Vereine und Organisationen standen ihm bei. Ohne diesen Beistand wäre es unmöglich gewesen, diese mühsamen Zeiten zu überleben. Natascha Dubs These lautete: „Eine Theaterbühne kann nur dann existieren, wenn sie von talentierten Schauspielern geführt wird, weil sie (die Schauspieler!) die tragende Säule des Erfolgs sind“. Und Natascha weiß, worüber sie spricht. Das Theater konnte in all den Jahren sein schöpferisches „ICH“ beweisen und hat sich durch seine tapferen Experimente beliebt gemacht. Die Tatsache, dass man heute in Kasachstan auf allen Ebenen über das Deutsche Theater schreibt und spricht, ist allein seinen Schauspielern zu verdanken, und die Chefregisseurin weiß es zu schätzen.
Natascha Dubs aber hat mehr Zeit, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren –
die Bühnenarbeit. Als Regisseurin erprobt sie stets Neues, verbindet das Dramaturgische mit dem Plastischen, untermalt die szenischen Geschehnisse mit Choreografie und Musik. Unter Theater versteht die Regisseurin vor allem die Vielfalt, die Symbiose der Künste, deren organische Einheit Wunder schaffen kann.

Ich wollte wissen, wie sich Natascha Dubs die Zukunft des Deutschen Theaters vorstellt. „Es soll ein lebendiges Theater sein, ein Theater, das sich außerhalb der Zeit bewegt, in dem der Sinngehalt ‚ich war‘, ‚ich bin‘, ‚ich werde sein‘, unbeschwerlich miteinander koexistiert. Und ja – ich bin insgeheim stolz auf das Erreichte… Das ist ein Gefühl, welches sich tief im Herzen verbirgt und die Augen tränen lässt. Selbstverständlich habe ich zum heutigen künstlerischen Format des Theaters beigetragen, aber dies habe ich nicht allein erreicht. Meine Strategie beruht auf der Lehre solcher berühmten Theatermacher wie K. Stanislawski, P. Bruck, B. Brecht, J. Grotowski, M. Tschechow, P. Bausch, O. Schlemmer und mehreren anderen Künstlern, die mein Vorbild sind und auf deren Schaffen ich meine Visionen aufbaue“.
Sprachliche Vielfalt auf der Theaterbühne
Das Deutsche Theater führt heute auf seinen Plakaten und in wichtigen Dokumenten den Titel „Staatliches Akademisches Deutsches Theater“. In Temirtau war es unter dem schlichten Namen „Deutsches Schauspieltheater“ bekannt. Manchmal nannte man es einfach Dramentheater. Aber das Wort „deutsch“ stand in allen Überschriften, egal ob auf dem Theaterplakat oder im Programmheft. Die jungen Schauspieler in Kasachstan schreiben heutzutage immer häufiger das russische Wort in lateinischen Buchstaben: „Nemetski“.
Auch die Vielfalt von Sprachen auf der heutigen deutschen Bühne in Kasachstan kann man gut nachvollziehen – Vertreter verschiedener Nationalitäten bilden den Kern des Ensembles. Neben den deutschen Schauspielern arbeiten hier Kasachen, Russen und andere. Zu Ehren des 30. Jubiläums der Volksversammlung Kasachstans demonstrierte das Deutsche Theater gemeinsam mit dem Koreanischen und Uighurischen Theater ein einzigartiges Theaterstück. Somit zeigt sich, dass die leidenschaftliche Hingabe zur Bühnenkunst im multiethnischen Kasachstan eint.