Ein Interview mit Lena Wolf über starke Gefühle und die Verarbeitung der Vergangenheit
Ein Kaleidoskop aus Kulturen, Sprachen und Geschmäckern – so beschreibt Lena Wolf ihre Kindheit und Jugend in Kasachstan. Sie wurde zuvor als Deutsche in Lettland geboren und verließ Zentralasien schließlich mit dem Ende der Sowjetunion, um mit ihrer Familie nach Deutschland zu gehen. Dort hat sie ihr Abitur gemacht und studiert. Lena bezeichnet sich selbst als KazakhGerman, also als Deutsche aus Kasachstan. Einen Teil ihrer Familiengeschichte hat sie in ihrer Graphic Novel „Möge die Welt dein Zuhause sein!“ veröffentlicht, die neugierig und traurig macht, vor allem aber zum Nachdenken anregt.
In ihrer Graphic Novel erzählt Lena ihre Familiengeschichte und beginnt dabei mit einem Schal. Den hat ihre Großmutter gestrickt, inzwischen hat er allerdings ein Loch. Diese Lücke will sie füllen. Metaphorisch steht der Schal für Lenas Familiengeschichte, denn auch diese ist verstrickt und lückenhaft, noch dazu kompliziert und voller Schmerz. Ganz sorgsam werden also im Laufe der Erzählung Informationen und Geschichten gesammelt, um die Leerstellen der Familiengeschichte – und darüber hinaus – zu füllen.
Du warst 17 Jahre alt, als du mit deiner Familie nach Deutschland gegangen bist. Erinnerst du dich an den Entscheidungsprozess?
Ja, ich erinnere mich genau. In den 80er Jahren, als die Frage der Autonomie für uns Deutsche in der Sowjetunion diskutiert wurde, spürte ich, wie wichtig das für meine Familie war. Ich war noch jung.
Ich sehe uns noch in der Küche in Aktjubinsk sitzen, meine Mutter kochte und schaute Nachrichten. Im Fernsehen liefen Demonstrationen – Frauen und Kinder protestierten laut, auf den Plakaten stand: „Wir wollen keine Faschisten hier.“ Das hat mich als Kind sehr erschüttert. Ich wusste, das richtet sich gegen uns, gegen MICH, aber ich verstand nicht warum. Meine Mutter sagte: „Nach all den Jahren sind wir hier nicht willkommen und werden nie dazugehören.“ Da wusste ich: Sobald es möglich wird, gehen wir.
Eine Autonomie, in der wir unsere Sprache sprechen und unsere Kultur sowie Religion leben können, wäre gut und gerecht gewesen. Gerade nach all dem, was den Deutschen der UdSSR angetan wurde. Doch die Sowjetunion ließ das nicht zu. Ich wusste: Wenn sich eine solche Chance bietet, verlassen wir diese Heimat, die uns nicht will, und gehen nach Deutschland – in der Hoffnung, in der Heimat unser Vorfahren endlich dazugehören zu können.
Wie hat sich das dann für dich angefühlt in dem Alter?
Ich wollte überhaupt nicht weg. Ich war 17, ich hatte meine Freunde, ich wollte studieren gehen. Es fühlte sich so an, als ob meine Eltern mich ohne meine Einwilligung mitgenommen haben.
In Deutschland angekommen, war ich fremd und gehörte nicht dazu. Als ich dann auf das Gymnasium gekommen bin, war ich die Einzige in der ganzen Schule, die anders war. Und der Lehrer wusste nicht mal, wo Kasachstan war. Was mir aber sehr geholfen hat, war, dass ich richtig gut in Mathe war – ich war bestimmt ein paar Jahre voraus. Meine Lehrerin in Aktjubinsk war wirklich streng, was sich später als Vorteil herausgestellt hat. Am Gymnasium in Deutschland war ich dann so weit, dass mein Lehrer mich sogar gebeten hat, den anderen Logarithmen zu erklären. Das kam sehr gut an. Plötzlich hatte ich viele Freunde.
Inzwischen bedanke ich mich bei meinen Eltern, dass sie diese Entscheidung getroffen haben. Ich hatte die Möglichkeit, in Deutschland zu leben und zu studieren, die Welt zu sehen, zu reisen, in Neuseeland zu studieren und so weiter. Aber damals mit 17, fand ich den Anfang sehr schwer.
Du hast in einem Interview gesagt: „Man muss die eigene Geschichte kennen, um eine Zukunft zu haben.“ Warum ist das so wichtig?
Ich bin fest davon überzeugt, dass man seine eigene Geschichte kennen muss, egal wie schwer sie auch ist. Nur so hat man einen festen Boden unter den Füßen, auf dem man aufbauen kann.
Viele, auch meine Eltern, sagten oft, es sei besser, nach vorne zu schauen und nicht in der Vergangenheit zu „wühlen“. Das kann ich gut verstehen, denn unsere Geschichte ist wirklich schwer. Manchmal wäre es leichter, sie einfach zu vergessen. In der Sowjetunion wurde uns sogar beigebracht, unsere Geschichte zu verdrängen und uns möglichst anzupassen.
Es hat auch nicht geholfen, dass in Deutschland von uns eine vollständige Integration erwartet wurde, schon wieder. Integrieren und vergessen – das konnten wir. Uns aber mit unserer Vergangenheit auseinanderzusetzen und den Schmerz zu spüren, das fällt uns oft schwer. Doch man muss seine eigenen Wurzeln kennen, um wirklich man selbst sein zu können.
Was wir mitbringen, ist so viel mehr – so viel Vielfalt und unterschiedliche Erfahrungen. Sogar unser Essen: Beschbarmak, Plov, Manti – das alles ist wunderschön und ein Teil von uns. Das sollten wir feiern und stolz darauf sein. Wir sind Deutsche, aber wir sind auch anders. Ich bin eine Deutsche aus Kasachstan – und darauf bin ich stolz.
Welche Rolle spielt das Schweigen für diese Geschichten?
Wir haben das Schweigen richtig gut gelernt, und zwar nicht nur innerhalb einer Generation, sondern über mehrere. Wir haben eine vertiefte Kenntnis, würde ich sagen, vom Schweigen, weil es so unglaublich wichtig war, um zu überleben.
Aber wir wissen, dass das, was nicht ausgesprochen wird, weitergeht. Das heißt: Der Schmerz ist immer noch da. Gerade dann, wenn darüber nicht gesprochen wird. Mit meiner Graphic Novel habe ich dafür eine Sprache gefunden. Kaum jemand kennt unsere Vergangenheit und wir sind wie aus der Geschichte ausgelöscht. Jetzt geht es darum, dass wir uns an unser Schicksal erinnern, indem wir wieder darüber sprechen.
Es gibt einen Satz in deinem Buch, der heißt: „Es blieb keine Zeit für Wut“. Hast du inzwischen Zeit für Wut gehabt?
Die Wut und ihre Verarbeitung, dafür müssen wir uns Zeit nehmen. Ich habe Zeit dafür gehabt und mir die Zeit dafür genommen. Das ist ein unglaublich wichtiger Schritt. Diese Verarbeitung von Wut und Ungerechtigkeit kann aber nur passieren, wenn man Abstand davon hat, also wenn man sich ein bisschen freier fühlt.
Das ist eine gesunde Art von Wut, ein Teil der Heilung, und dafür muss alles rauskommen. Das ist ein Luxus, den ganz viele Leute, die immer noch in diesem Zustand leben, gar nicht erfahren können, weil sie immer noch mit dem Überleben beschäftigt sind.
An einer anderen Stelle in deinem Buch wird gefragt: „Bestimmt uns das, was wir verloren haben?“ Hast du eine Antwort gefunden auf diese Frage?
Für mich bedeutet es, Deutsche aus Kasachstan zu sein, immer auch Verlust zu erfahren. Unsere Geschichte ist geprägt von Verlusten – von Häusern, Grundstücken und Erbstücken, die uns einfach weggenommen wurden. Aber es geht nicht nur um das Materielle. Viele von uns haben ihre Angehörigen verloren – ihre Tanten, Onkel, Großeltern, die verhaftet, erschossen oder in den Gulag geschickt wurden und dort gestorben sind. Egal mit wem man spricht, diese Verluste sind immer präsent. Jede Generation hat durch Deportationen und Enteignungen alles verloren. Wir haben kaum physische Erinnerungsstücke oder materielles Erbe aus dem Leben unserer Vorfahren.
Diese Angst des Verlustes wurde dann an meine Eltern weitergegeben, obwohl sie schon ein besseres Leben führten, und meine Eltern haben das an mich weitergegeben. Das ist eine vererbte Angst: Mit Sicherheit wird jemand kommen und dir das wegnehmen.
Dann kam der nächste große Einschnitt, als wir nach Deutschland ausgereist sind. Wieder mussten wir bei null anfangen, wieder haben wir alles zurückgelassen. In meiner Familie wurde nichts weitervererbt – das muss man sich einmal vorstellen. Eher umgekehrt: Wir haben den Verlust geerbt.
Es gibt aber auch ein anderes Erbe, das ich in meiner Graphic Novel zeigen möchte. Besonders die deutschen Frauen in der UdSSR beeindrucken mich: Frauen, die ihre Familien allein durchgebracht haben, weil die Männer im Gulag waren und nicht zurückkehrten. Frauen wie meine Großmutter, die nie geklagt, sondern nach der Deportation das Leben neu aufgebaut haben. Diese unglaubliche Stärke des Neuanfangs. Diese Stärke wurde an uns weitergegeben.
Du lebst inzwischen schon seit einer Weile in englischsprachigen Ländern, erst in Neuseeland und jetzt in England. Was haben dir diese Orte gegeben?
Das Leben in Neuseeland und England hat meinen Horizont enorm erweitert. Es ist bereichernd zu sehen, wie unterschiedlich Menschen ihr Leben gestalten, und das hilft, die eigene Sichtweise zu hinterfragen und Neues zu lernen. Gleichzeitig hat mir die Distanz geholfen, meine eigene Geschichte aus einer neuen Perspektive zu betrachten.
Neuseeland war für mich der Anfang, wo ich mich mit der Geschichte, mit diesen Traumata auseinandersetzen und es von der Distanz her anschauen konnte, ohne dass es mir zu schwer wurde. In Neuseeland als neutraler Mensch anzukommen, war wundervoll und befreiend. Ich war wie ich war und musste auch keinem erklären, wo ich herkam.
Mein Buch habe ich auf Englisch geschrieben. Deutsch und Russisch waren für mich zu sehr mit Schmerz verbunden. Erst durch den Abstand und die neutrale Sprache Englisch konnte ich meine Geschichte wirklich verarbeiten.
Diese Freiheit hat mir auch ermöglicht, mich intensiver mit meiner Identität auseinanderzusetzen. Was macht uns aus? Ist Identität nur unsere Geschichte oder mehr? Jeder muss das für sich selbst herausfinden – das beschreibe ich auch in meinem Buch.
Wieso hast du dich für das Format Graphic Novel entschieden?
Eine Graphic Novel ist eine Art illustrierter Roman und das Format ist sehr bekannt in den USA, Frankreich und Japan. Jetzt gibt es die allererste Graphic Novel über die Geschichte der Deutschen aus Kasachstan. Es ist kein Comic, denn das Buch ist für Erwachse wie auch Jugendliche gedacht und es behandelt teilweise sehr schwere Themen.
Wenn die nötigen Ressourcen zur Verfügung stünden, würde ich sehr gerne ein zweites Buch veröffentlichen. Im zweiten Teil würde ich die Geschichte meiner Großmutter Josefine erzählen. Sie wurde zu 20 Jahren Haft im Frauengulag Workuta verurteilt, etwa 150 Kilometer nördlich des Polarkreises. Mein Vater kam damals in ein Waisenhaus in der Ukraine – für Kinder der Staatsfeinde.
Mich faszinieren die Überlebensgeschichten unserer Vorfahren sehr. Was sie trotz aller Widrigkeiten erreicht haben, ist für mich beeindruckend. Diese Geschichten sollten in der ganzen Welt bekannt sein.
Das gesamte Projekt war von Anfang an sehr international geprägt. Ich selbst habe in England daran gearbeitet. Der Illustrator, Christoph Heuer, kommt aus Essen und die Koloristin lebt in Spanien.
Inzwischen verkauft sich das Buch weltweit und die ersten Exemplare wurden schon nach
Argentinien, Japan, Australien, in die USA, nach Kanada, Deutschland, Österreich. Frankreich, Italien und Holland verschickt. Es freut mich, dass jetzt weltweit über uns gelesen wird.
Möge die Welt dein Zuhause sein! ist auf Englisch, Deutsch und Russisch erhältlich und kann online über Amazon als Buch bzw. E-Book bestellt werden. Auf Lenas Website und bei Instagram gibt es aktuelle Informationen über das Buch.
Wenn es nach Lena ginge, würde sie die Graphic Novel gern auch ins Kasachische übersetzen lassen und hierzulande in die Bücherläden bringen. Dann könnten Menschen durch diese Graphic Novel in vier verschiedenen Sprachen Zugang zu den Schicksalen finden, die nicht vergessen werden dürfen.