Langsam fahre ich mit der Hand über die steinerne Felswand vor mir und versuche, ihre Struktur zu verstehen. Felsen sind für mich etwas ganz Besonderes, vor allem seit ich vor einigen Jahren mit dem Klettern angefangen habe. Noch bevor ich den ersten Schritt setze, will ich wissen, was bald in fünf, zehn oder fünfzehn Metern Höhe auf mich zukommt: Granit, Sandstein oder gemischtes Konglomerat, warm oder kalt, trocken oder feucht, all das wird meine Entscheidungen dort oben maßgeblich beeinflussen. Wie ich greife, zum Beispiel, oder wohin, wie lange ich an einer Stelle verweilen kann, möchte oder sollte und welche Stellen ich lieber meide. Wenn sie sich denn vermeiden lassen.
Klettern in Kasachstan
Die kasachische Kletterszene ist vor allem in und um Almaty herum ziemlich aktiv und etabliert. Neben Boulder- und Kletterhallen innerhalb der Stadt sind auch die Klettergebiete außerhalb sehr gut erschlossen. Viele der Routen in Tamgaly-Tas sind relativ neu, also in den letzten Jahren geschraubt worden, und in entsprechend gutem Zustand sind die Bohrhaken und Ankerpunkte an den Wänden. Lediglich die zum Teil krümeligen Stellen der Routen aus Tuff-Gestein sollten mit Vorsicht behandelt werden, daher gilt Helmpflicht für die Sichernden.
Davon abgesehen sind Menge und Vielfalt der Routen, nicht nur für das Sportklettern, sondern auch für traditionelles Klettern sehr attraktiv. Es gibt Kletterführer in Buchform für die Gebiete, vor allem auf Russisch, zum Teil aber auch auf Englisch.
Zu den aktivsten Gesichtern der Szene zählt dabei Kirill Belotserkovskiy. Er lebt in Almaty, ist Bergführer und gibt Kletter- sowie Alpinkurse. Rund um Almaty habe er nach eigenen Angaben um die 200 Kletterrouten für das Sportklettern am Felsen geschraubt. Neben Tamgaly-Tas, das er als sein Lieblingsgebiet zum Klettern bezeichnet, ist er auch viel in den Bergen südlich von Almaty unterwegs.
Bevor Kirill in seiner Heimatregion damit begonnen hat, Routen zu setzen, waren dort die Möglichkeiten für ein sicheres Sportklettern eher beschränkt. Das Routensetzen bedeutet, dass Metallstücke mit Öse in die Felsen eingeschraubt oder verklebt werden, an denen man sich dann mit dem Seil festmachen kann. Es habe, so Kirill, lediglich um die 10 Routen gegeben, deren Bohrhaken aber entweder rostig und damit unsicher waren oder bei denen der Abstand der Bohrhaken zueinander so groß war, dass auch das Klettern dieser Routen ein unnötig großes Risiko in sich barg.
Das wichtigste Vorbild hinsichtlich des Kletterns für Kirill selbst ist übrigens Alexej Raspopov. Mit seinem einstmaligen Kletterlehrer, der ihn als Jugendlichen im Club für Bergsteiger trainiert hat, ist Kirill noch immer in Kontakt.
„Wir wollten kein Vorbild, aber wahrscheinlich brauchten wir eines und so er wurde für uns zu einem. Er hat uns im Wesentlichen gar nicht das Technische vom Klettern beigebracht, nicht wie man Knoten macht oder ähnliches, was wir uns auch selbst beibringen konnten. Er hat uns viel Grundsätzlicheres beigebracht, wie man miteinander umgeht zum Beispiel, oder wie man die Berge behandelt, wie man sich dort verhält. Er hat uns gelehrt, die Umwelt zu respektieren und uns dessen bewusst zu sein, dass wir sterben können, wenn wir einen Fehler machen.“
Für die DAZ konnte ich Kirill in den letzten Wochen interviewen und außerdem bei einigen seiner sportlichen und beruflichen Aktivitäten filmen. Das Video dazu gibt es seit dieser Woche auf dem YouTube-Kanal der DAZ.
Hoch über dem Fluss Ili
Es ist ein herrlicher Herbsttag im frühen Oktober, sonnig und warm. In bester Laune und in noch besserer Gesellschaft kann ich schon hier, vom Fuße der Wand, auf den breiten Fluss Ili schauen, der diese weite Landschaft entzweit. Von hier aus sehe ich die Wirbel auf dem Wasser, die erahnen lassen, wie stark die Strömung in der Mitte des Gewässers sein muss. Außerdem sehe ich unsere drei Vans, die direkt am Wasser unser kleines Wochend-Camp bilden.
„Willkommen im Paradies!“, so wurden wir hier begrüßt, als wir angerollt sind. Nach circa einer halben Stunde Fahrt über Sandpisten, die die Hauptstraße mit diesem abgelegenen Ort am Fluss verbinden, haben wir uns direkt an die Erkundung der Gegend gemacht, waren spazieren und schwimmen. Nach anderthalb Wochen zwischen Dauerstau und Menschenmengen in Almaty tut die Ruhe gleich doppelt gut.
Um uns herum sind an diesem Wochenende immer mal wieder Menschen, neben anderen Kletternden auch Familien und neugierige Kinder, denn Tamgaly-Tas ist nicht nur als das größte Sportklettergebiet Kasachstans, sondern außerdem für seine alten Petroglyphen bekannt. Diese werden um einige Jahrhunderte zurückdatiert und zeigen Abbilder und Symbole aus dem Buddhismus.
Das Wort Petroglyph kommt aus der griechischen Sprache und setzt sich aus den Wörtern für Stein und Gravur zusammen. Die Faszination der Menschen für Felsen und dafür, sich im Stein zu verewigen, geht also weit zurück. So verhält es sich wohl auch mit dem Klettern, dem Entdecken, dem Ausloten neuer Möglichkeiten und dem Finden neuer Wege in der Vertikale.
Abhängigkeit und Angst
Wie andere Natursportarten auch, ist das Klettern für mich ein sehr erdendes, mit Mutter Erde verbindendes Erlebnis. In der Ruhe der Natur finde ich immer wieder zu mir selbst zurück und merke am Fuße dieser riesigen Felswand, wie klein ich eigentlich bin. Mit jedem Zug und jedem Höhenmeter verschwinde ich immer mehr für die Welt da unten, tauche ein in die Abhängigkeit vom Felsen, von den Pflanzen und Tieren rundherum, vom Wetter und nicht zuletzt von der Person, die mich am anderen Ende des Seils sichert.
Ich tauche ein in einen Zustand der Konzentration und nehme nahezu meditativ meinen eigenen Atem sowie meine Gedanken wahr. Der Dreh- und Angelpunkt beim Klettern ist der Umgang mit der Angst und ihr hat schon einer der bekanntesten deutschen Kletterer, Alexander Huber, ein gesamtes Buch gewidmet. Natürlich ist mir das Gefühl, in einigen Metern Höhe und nur an einem Seil befestigt an einer geraden Wand nach oben zu klettern, vor allem anfangs alles andere als geheuer.
Angst ist also einfach ein natürlicher und gesunder Überlebensmechanismus des Körpers, um sich mitzuteilen und zu sagen: Hey du, bist du dir da sicher? Keine Angst haben zu wollen, ist daher vielleicht gar nicht so erstrebenswert, schließlich macht sie kurzfristig auch wach und konzentriert. Mit der Angst umgehen zu können, einen konstruktiven Zugang zu ihr zu finden und sie schließlich vielleicht sogar für den eigenen Vorteil nutzen zu können, das erscheint allerdings schon sinnvoll.
Kirill, der inzwischen Jahrzehnte an Erfahrungen im Fels- und Eisklettern sowie im alpinen Gelände hat, fühlt die Angst nicht mehr besonders stark:
„Wenn beispielsweise ein Griff am Felsen bricht und sich beim traditionellen Klettern dann eines deiner Sicherungsgeräte löst, dann kannst du auf dem Boden landen. Aber selbst in Anbetracht dessen habe ich keine Angst. Ich denke, ich habe ein bißchen Angst im Laufe des Kletterns, wir sind ja schließlich alle Menschen, aber grundsätzlich nicht. Ich bin ziemlich selbstsicher.“
An diesem Punkt bin ich wohl noch nicht. Mein Körper steigt also auf, während mein Kopf abtaucht. Ich atme tief, nehme meine Gedanken wahr und lege sie ein wenig beiseite. Jetzt einfach nicht zu viel denken, denke ich. Nicht zu lange warten, sonst dreht der Kopf frei. Dabei die Kontrolle nicht verlieren, das kommt wohl mit der Zeit.
Schließlich wird man immer kleiner auf dem Weg nach oben, bis je nach Routenlänge nur noch ein Punkt von oben ruft: „Zu und ab!“ Das bedeutet für die sichernde Person: das Seil straffen und runterlassen. Dann ist man also ganz oben und sieht mit stolzem Blick zurück zum Boden, was man alles schaffen kann.