Dara Kossok-Spieß wurde 1991 in Kasachstan geboren und lebt seit 1999 in Berlin-Spandau. Sie arbeitet beim Handelsverband Deutschland und leitet dort die Bereiche Digitalisierung und Netzpolitik. Dara Kossok-Spieß engagiert sich ehrenamtlich und politisch. Sie ist Fraktionsvorsitzende bei der BVV Berlin-Spandau und gehört dem Landesvorstand der GRÜNEN in Berlin an. Im Interview sprach die Politikerin mit unserer Redaktion über ihre ersten Jahre in Deutschland, über die „Kultur des Schweigens“ bei den Russlanddeutschen und warum wir mehr Vorbilder für junge Frauen in der Politik brauchen.

Dara, wie war dein Leben vor der Auswanderung nach Deutschland?

Ich habe noch viele Erinnerungen an Kasachstan. In unserer Familie werden aber auch bis heute gern Anekdoten aus dem „früheren Leben“ erzählt.

In Kasachstan habe ich die erste Klasse abgeschlossen und kann mich noch sehr gut an meine weiße Bluse, meinen schwarzen Rock und diese riesengroße Schleife auf meinem Kopf erinnern, die damals so trendy waren. Wir hatten ein schönes Haus mit einem großen Garten – und den leckersten Himbeeren überhaupt! Ich habe nie wieder solche leckeren Himbeeren gegessen.

Leider bin ich nach unserer Auswanderung 1999 nie wieder in Kasachstan gewesen. Wir haben dort aber auch so gut wie keine Verwandten mehr. Ein kleiner Teil unserer Familie ist in Berlin, der größte Teil der Verwandtschaft lebt in Bayern. Eigentlich ist unsere Familie ganz weit verstreut: Von Deutschland über Kasachstan bis nach Russland.

Wie hast du als Achtjährige die „Eingewöhnungsphase“ in Deutschland erlebt?

Ich kann mich gut daran erinnern, wie wir im Heim gelebt haben oder, dass ich die erste Klasse wiederholen musste. Da gibt es eine lustige Anekdote aus dieser Zeit: Im Mathe-Unterricht haben wir von unserer Lehrerin ein Übungsheft mit Rechenaufgaben bekommen. Ich konnte ja bereits alles und habe das ganze Heft an einem Abend abgearbeitet. Am Tag darauf präsentierte ich stolz meiner Lehrerin das Heft, aber sie war ganz entsetzt, denn dieses Übungsheft beinhaltete Aufgaben, die für das ganze Jahr reichen sollten.

Mathe konnte ich zwar schon gut, dafür musste ich aber die deutsche Sprache lernen. In Kasachstan besuchte ich einen deutschen Verein: Wir sangen dort Lieder, tanzten zu deutscher Musik und lernten Gedichte auswendig. Doch diese bescheidenen Kenntnisse reichten nicht aus, um mich hier verständigen zu können.

Als Kind war ich eher eine Einzelgängerin. Meine Zeit verbrachte ich lieber vor dem Fernseher als auf dem Spielplatz. Dank diesen Fernsehsendungen habe ich tatsächlich Deutsch gelernt.

In der Pubertät beginnt man sich gewisse Fragen nach der Zugehörigkeit zu stellen. Damals habe ich immer wieder irgendwelche blödsinnigen Witzchen über Wodka in meine Richtung gehört und habe mich darüber geärgert, was das mit mir zu tun haben soll. Wir haben in der Familie Russisch gesprochen, also waren wir automatisch die „Russen“. Obwohl man mir meinen migrantischen Hintergrund weder ansehen noch anhören konnte (was natürlich gleichzeitig ein Privileg ist), war ich nie zu 100% dazugehörig. Man wird automatisch aufgrund der Herkunft abgegrenzt.

Also versuchst du dich über deine Sprache zu definieren, du suchst die „Deinesgleichen“ und grenzt dich irgendwann selbst dadurch ab. Eine lange Zeit habe ich mein Tagebuch nur auf Russisch geführt, denn dabei hatte ich das Gefühl „ich selbst“ sein zu dürfen und konnte diese Fassade, die ich in der deutschen Gesellschaft aufrechterhalten musste, fallen lassen.

Irgendwann habe ich mir meinen Kreis gesucht, wo ich mich zugehörig fühlte. Es waren Jugendliche wie ich, mit denen ich dieselben Erfahrungen und die Sprache teilte. Wir haben damals in Plattenbausiedlungen gelebt. Es gab keine zusätzlichen Unterhaltungs- oder Bildungsangebote für uns, wie wir es zum Beispiel heute kennen. Unsere Eltern mussten meistens den ganzen Tag arbeiten und hätten uns sowieso nicht zu den ganzen Freizeitaktivitäten bringen können. Sie mussten hier ein neues Leben aufbauen und für ihre Familien sorgen. Was blieb uns übrig? Unser Zeitvertreib waren die Treffen bei der Tischtennisplatte und das Fernsehprogramm.

Heute bist du beruflich erfolgreich, gesellschaftlich engagiert und politisch aktiv. Was hat dich dazu bewegt, in die Politik zu gehen?

Der Auslöser war tatsächlich die Geburt meiner Tochter. Da habe ich gespürt, dass ich mich nicht mehr ausreden kann und selbst an die Sache heran muss. Ich möchte die Gesellschaft, in der meine Tochter aufwachsen wird, mitgestalten.

Heute denke ich, dass ich viel zu spät in die Politik gekommen bin. Schuld daran ist der Irrglaube, dass man zunächst eine Ausbildung, ein Studium oder jede Menge Erfahrung benötigt, um Politik machen zu dürfen. Ich hätte auch schon mit 18 oder mit 16 Jahren in die Politik gehen können. Es gab damals aber keine Perspektiven für mich – oder ich kannte sie einfach nicht. Oft wissen die Menschen nicht, wo und wie sie anfangen können. Bei den Frauen ist diese Scheu und diese Zurückhaltung noch größer. Und bei Frauen mit Migrationsgeschichte ist diese Hemmschwelle drei- oder fünfmal so hoch. Diese Hemmungen hatte ich auch.

Wie kann man diese Hemmungen nehmen und mehr junge russlanddeutsche Frauen – oder insgesamt Menschen mit Migrationsgeschichte – für die Politik begeistern?

Zunächst müssen wir begreiflich machen, dass Politik jeden Bereich unseres Lebens betrifft: Sei es das schlechte Internet, die fehlende Busverbindung oder das nicht funktionierende Bürgeramt.

Der zweite Punkt, der sehr wichtig ist: Es fehlt uns an Vorbildern. Vor allem in migrantischen Gruppen – und insbesondere bei den Frauen. Wir sehen Bilder von Politik, von denen wir uns nicht angesprochen fühlen. De facto sind es meistens „alte weiße Männer“ (oder auch Frauen) und dadurch fühlen sich junge Menschen mit Migrationsgeschichte oft nicht angesprochen. Auch ich dachte damals, dass andere eher legitimiert seien, Politik machen zu dürfen.

Wir brauchen mehr Vorbilder und ich erachte es als eine Pflicht unserer Generation, diese Vorbilder für unsere Kinder zu schaffen. Wir müssen uns das endlich zutrauen und über unseren Schatten springen. Würden wir mehr junge Politikerinnen sehen, die bereits was erreicht hätten und sichtbar wären, würden viel mehr Frauen sich endlich trauen, in die Politik zu gehen.

Und schließlich der dritte Punkt: Wir müssen den Menschen erklären, wie politische Arbeit funktioniert. Dabei setze ich meine Hoffnungen auf die Digitalisierung. Ein junger Mensch schaltet sich lieber in eine Zoom-Veranstaltung ein, bevor er in die Altstadt fährt und sich in einem Lokal eine Rede oder eine politische Diskussion anhört. In solchen Situationen fühlt man sich schnell unwohl, weil man vielleicht noch nicht so viel versteht, niemanden kennt und sich überhaupt nicht zugehörig fühlt. Daher sind digitale Formate die Chance für politische Arbeit.

Wir müssen jungen Menschen die Möglichkeiten bieten, mitzumachen und mitgestalten zu können. Nicht mit sechs Sitzungen pro Woche, sondern durch Aktivitäten, bei denen sie etwas Sinnvolles tun und dabei etwas über Politik lernen.

Welche Rolle spielen solche Begriffe wie Identität oder Geschichte in deiner Familie? Wird bei euch darüber gesprochen?

Ehrlich gesagt, kam das Thema bei uns erst vor anderthalb Jahren auf, als meine Großmutter im Sterben lag. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie immer über ihre Vergangenheit geschwiegen. Vor ihrem Tod begann sie darüber zu sprechen und hat uns sehr viel aus ihrem Leben erzählt. Die Mutter meiner Mutter war eine Russin – der Vater ein Deutscher. Meine Großeltern haben geheiratet, meine Mutter bekommen, doch dann trennten sie sich. Meine Großmutter hatte es oft schwer, weil sie ein Kind von einem Deutschen hatte.

Als Kind kannst du viele Sachen nicht auf Anhieb begreifen. Du schnappst etwas als Stimmung auf, kannst es aber nicht richtig zuordnen. Meine Großmutter war zum Beispiel immer sehr aufgebracht, wenn ich Brot in meiner Tasche vergessen hatte und es schlecht geworden war. Damals konnte ich ihre Aufregung nicht ganz verstehen. Heute erscheint mir vieles klarer, weil ich die Hintergründe kenne. Meine Mutter ist in dieser Hinsicht ganz anders. Sie spricht sehr offen über die Vergangenheit – über die Neunziger Jahre, den Zusammenbruch der Sowjetunion, die Gründe unserer Übersiedlung nach Deutschland.

Aufgrund unserer eigenen geschichtlichen Erfahrung können wir gegenüber Menschen, die heute Erfahrungen mit Krieg, Flucht und Vertreibung machen, nicht nur ein viel tieferes Verständnis aufbringen, sondern auch als Brückenbauer fungieren. Wir wissen, wie ein menschliches Leben durch ein totalitäres System oder geopolitische Entscheidungen zermahlen werden kann. Und insbesondere, welch tiefe Spuren solche traumatischen Erfahrungen wie Flucht oder Deportation bei einem einzelnen Menschen und bei ganzen Generationen hinterlassen können.

Die Russlanddeutschen haben über Jahrzehnte eine „Kultur des Schweigens“ gepflegt. Nun ist es höchste Zeit, miteinander ins Gespräch zu kommen. Wir müssen miteinander reden, um für uns selbst verstehen zu können, wer wir sind, wo wir herkommen und wo wir hingehen möchten.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Katharina Martin-Virolainen.

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