Über das Buch „Der lange Weg bis zum Wiedersehen“ von Bulat Mekebaev

Bulat Mekebaev ist ein kasachischer Künstler, der seit einem Vierteljahrhundert in Berlin lebt. Geboren wurde er am 22. August 1964 in Kökschetau (früher Koktschetaw), wo er zwischen 1977 und 1980 die Kinderkunstschule besuchte und zwischen 1985 und 1990 an der Fakultät für Kunst und Grafik des Kasachischen Pädagogischen Abai-Instituts studierte. Im Jahr 2000 wurde sein Diplom in Deutschland anerkannt. Er ist Preisträger der Internationalen Assoziation „Kunst der Völker der Welt“ (Moskau, Russland) und des Internationalen Festivals der Künste in Astana im Jahr 2014. Er ist Initiator des Internationalen Instituts der Künste „Treffpunkt Berlin“.

Bulat gab mir am Vorabend des Gedenktags der Deportation der Deutschen in der Sowjetunion, der alljährlich am 28. August stattfindet, ein Interview, das ich nachstehend zusammengefasst habe und in dem der Künstler und Schriftsteller, der die Deportation der Deutschen in seinem gesamten künstlerischen Schaffen mit großem Talent beleuchtet, seine Gedanken mit den Lesern von „Volk auf dem Weg“ teilt.

Im letzten Jahr war der 80. Gedenktag der Deportation der Deutschen in der So­wjetunion. Über die Zwangsaussiedlung der Deutschen im Jahr 1941 schrieben Sie den Roman „Vom Morgengrauen bis zum Abendrot“. Wie kam Ihnen die Idee, ein Buch zu diesem Thema zu verfassen, wie entstand die Handlung und weshalb entschlossen Sie sich, als Kasache, überhaupt dazu?

Ich denke nicht, dass jemand jemals ausreichend Kraft und starke Nerven besitzen wird, um den ganzen Horror der Stalinschen Deportation in all ihrer Konsequenz zu beschreiben. Es ist unmöglich, dies auf einer Leinwand, in einem Lied oder auf Papier zum Ausdruck zu bringen. Ich habe lediglich versucht, einen Teil des allgemeinen Dramas wiederzugeben, die Lebensgeschichte einer deportierten deutschen Familie.

Vor der Erstellung des Romans „Vom Morgengrauen bis zum Abendrot“ hatte ich schon viel über die Deportation der Wolgadeutschen gehört, dachte aber nicht besonders darüber nach, wie und warum das vonstattenging. Als ich dann bei Gesprächen mit alten Leuten, die die Zwangsumsiedlung, eigentlich die Vernichtung, selbst erlebt hatten, also aus erster Hand von der Geschichte erfuhr, entstand in mir der Wunsch zu erzählen, wie es wirklich war.

In der Zeit der Deportation fand im wahrsten Sinne des Wortes der Genozid der Sowjetdeutschen statt. Nicht alle erkennen diese Tatsache an, aber es gibt dafür geschichtliche Beweise.

Dasselbe gilt für den mittels Holodomor (Tötung durch Hunger) inszenierten Genozid an den Kasachen in den 1920er und 1930er Jahren.

Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre arbeitete mein Vater Abugasit Chabdullowitsch Mekebaev (1931-1975) als Leiter des Kultur- und Propagandasektors des Gebietskomitees der Partei in Kok­tschetaw. Als Mitglied des Journalistenverbandes der UdSSR hatte er Zugang zu den Archiven nicht nur in Alma-Ata, sondern auch in Moskau, wo er häufig auf Dienstreisen war. Eben dort, in den Archiven, entdeckte er Unterlagen zu zwei Holodomoren, die in Kasachstan künstlich erzeugt wurden. Er wollte dies veröffentlichen und bezahlte dafür schließlich mit dem Leben. Mein Vater ging von uns, als ich elf Jahre alt war. Als Schöpfer von Bildern und Worten blieb ich diesem Thema, das meinem Vater heilig war, treu.

Das Gefühl der besonderen Verbundenheit

Im Namen meines ganzen Volkes möchte ich, ohne die Ehre der Vertreter anderer Völkerschaften, die in Kasachstan leben, zu verletzen, etwas zum Gefühl der besonderen Verbundenheit zwischen Deutschen und Kasachen sagen.

Kasachen sind gastfreundlich. Den Menschen, die aus ihren Heimatorten zwangsausgesiedelt wurden, gaben sie ihr letztes Hemd, versagten dabei oft ihren Kindern das Nötigste. Die kasachische Gastfreundschaft entwickelte sich im Laufe von Jahrhunderten, und auf der Grundlage dieser uralten Traditionen begegneten sich alle, die in Kasachstan ankamen.

Aber den Deutschen begegneten die Kasachen mit besonderen Gefühlen. Sie stachen durch ihren Fleiß hervor, bemühten sich, die Kultur der Steppenbewohner zu verstehen und die kasachische Sprache zu erlernen. Indem sie gemeinsam alle Schwierigkeiten jener Zeit durchmachten, überlebten sie gemeinsam und näherten sich dadurch einander an. Die kasachischen Steppen wurden für die Deutschen zu einer zweiten Heimat.

Als es Zeit wurde, in ihre historische Heimat zurückzukehren, machte sich eine deutsche Familie nach der anderen nach Deutschland auf. Aber die Erinnerung an das Fleckchen Erde, das sie aufnahm und ernährte, blieb in den Herzen vieler Kasachstandeutschen bis zum heutigen Tag.

Mein Buch „Der lange Weg bis zum Wiedersehen“ wurde in Kasachstan publiziert. Es enthält den Deportationsroman „Vom Morgengrauen bis zum Abendrot“, die Erzählung „Der lange Weg bis zum Wiedersehen“, die meinem Vater gewidmet ist, und die lyrische Rubrik „Das Leben auf sich beziehen“.

Gemeinsam mit meinen Freunden, die dafür von überallher in meine Heimat kamen, besuchte ich vier kasachische Städte und präsentierte dort mein Buch. Zu diesen Vorstellungen kamen viele Deutsche, die in Kasachstan geblieben sind. Mit Tränen in den Augen dankten sie mir für diesen Roman. Die Schicksale der Vertreter der älteren Generation entsprechen der Geschichte meines Protagonisten, und diese Erinnerungen berührten ihre Herzen, indem sie sie erneut in ihre schwierige Kindheit entführten.

Ebenso fanden solche Treffen in Russland, Aserbaidschan, Montenegro und Polen statt, bis das Buch schließlich Deutschland erreichte. In all diesen Ländern gab es warmherzige Begegnungen. Aber auf die größte Resonanz stieß das Buch „Der lange Weg bis zum Wiedersehen“ in Deutschland. Man begann, das Buch zu kaufen. Ich erhielt zahlreiche Schreiben und Anrufe. Stundenlang hörte ich Berichte über die schrecklichen Ereignisse jener Zeit, Worte der Dankbarkeit für den Roman und Worte der Erkenntlichkeit für das ganze kasachische Volk. Bis heute sprechen mir völlig fremde Menschen deutschlandweit Einladungen aus.

Wie ich nach Deutschland kam

Durch Zufall lernte ich eine hübsche junge Frau kennen, in die ich mich sofort verliebte. Damals wusste ich nicht, dass sie Deutsche ist. Das spielte für mich auch keine große Rolle. Wir heirateten in den 1990er Jahren. Zu dieser Zeit hatte ich bereits die Lehrtätigkeit an der Fakultät für Kunst und Grafik des Pädagogischen Instituts aufgegeben und wurde Unternehmer.

Und 1997 befand ich mich dann in Deutschland. In meinen Kindern fließt auch deutsches Blut. Ich lebe in diesem Land seit mehr als 25 Jahren, genug Zeit, um heimisch zu werden.

Während der Besuche bei meinen deutschen Verwandten hörte ich niemals vom durchgemachten Leid während der Zwangsumsiedlung und dachte des Öfteren darüber nach, eine Erzählung oder einen Essay zu diesem Thema zu schreiben. Die Verwirklichung dieser Idee ließ nicht lange auf sich warten. Alle nachfolgenden Ereignisse in meinem Leben führten mich förmlich dorthin.

Eine schicksalhafte Begegnung mit Rafail Schnell

Von meiner Wohnung bis zur Künstlerwerkstatt, die ich viele Jahre lang im Kunstzentrum Tegel-Süd in Berlin mietete, war es ein Weg von drei Minuten. Eines Tages sprach mich ein älterer Mann an, der unweit davon jeden Tag mit seiner Frau spazieren ging und den ich schon oft gesehen hatte. Er fragte mich auf Russisch, welcher Landsmann ich sei. Ich antwortete, ich sei Kasache. Ohne lange nachzudenken, lud er mich zu sich ein.

Ich nahm die Einladung an und kam zur verabredeten Zeit. Der Tisch war gedeckt, wie für einen besonderen Ehrengast. Wie es eben üblich ist, aßen, tranken und unterhielten wir uns. Und so erzählte mir der Herr des Hauses seine Geschichte, und ich hörte aufmerksam zu.

Rafail Schnell – so hieß mein neuer Bekannter – berichtete mir von seiner Kindheit und Jugend und darüber, dass er den Status eines „Diebes im Gesetz“ hatte. Sein Bericht erstaunte mich. Wir diskutierten angeregt, die Zeit verflog unmerklich, und es war schon weit nach Mitternacht. Am Ende fragte ich ihn, ob er bei einer anderen Gelegenheit alles Erzählte noch einmal wiederholen könnte, aber mit einem Diktiergerät.

Ohne etwas zu sagen, ging er in ein Nebenzimmer und brachte eine Mappe voller von Hand beschriebener Seiten mit. Er übergab sie mir und bat mich zum Abschied, alles zu lesen.

Zurück in meinem Atelier öffnete ich die Mappe und blickte voller Staunen auf 270 durchnummerierte Seiten, die mit kleiner Schreibschrift vollgeschrieben waren. Der Bericht begann mit einem großen Buchstaben und erst ganz am Ende der Aufzeichnung stand ein Punkt. Das Lesen fiel mir deshalb sehr schwer. Ich musste das Gelesene erst durchdenken, feststellen, wo der Satzanfang und das Satzende waren. Aber die Geschichte zog mich von der ersten Seite an so in ihren Bann, dass ich den ganzen Bericht in einem Atemzug las. So wurden Rafail und ich Freude für den Rest unseres Lebens.

Ich schrieb bis zum Aortenriss

Ich begann mit dem Schreiben. Ich wollte ausführlicher auf die Menschen eingehen, die Rafail geholfen hatten zu überleben, und begann, ihre Schicksale auszubauen, indem ich mich der literarischen Fiktion bediente. Die vielfältigen Details machten die Kurzgeschichte erst zu einer Prosaerzählung und dann zu einem Roman.

Abend für Abend kehrte ich aus meiner Künstlerwerkstatt mit roten Augen nach Hause zurück. Dort hatte ich für gewöhnlich seit dem frühen Morgen an meinem Schreibtisch geschrieben. Ich schrieb ein Jahr lang. Die einfachen, ungefärbten Ausführungen Rafails erhielten eine emotionale Kolorierung. Es war, als würde mir jemand die Worte von oben diktieren, ich kam mit dem Niederschreiben kaum hinterher.

Im Jahr 2016 beendete ich den Roman. Rafail hatte auf ihn gewartet. Erst im Nachhinein erfuhr ich, wie schwer ihm das Warten gefallen war. 2017 wurde der Roman zum ersten Mal im Almanach „Literarische Bekanntschaften“ in Moskau publiziert. Die Buchpräsentation fand im „Haus Bulgakows“ statt. Mein Roman „Vom Morgengrauen bis zum Abendrot“ erhielt positive Kritiken von russischen Schriftstellern und eine Medaille von Lew Anninski.

Nach der Rückkehr aus Russland überreichte ich Rafail 20 Exemplare des Buchs. Er las den Roman mehrmals. Beim Lesen konnte Rafail, der Prototyp des Protagonisten, seine Tränen kaum zurückhalten.

Nach anderthalb Monaten kam er ins Krankenhaus. Es stellte sich heraus, dass einer seiner Halswirbel vom Krebs befallen war. Die Ärzte wunderten sich, wie er seinen Kopf überhaupt oben halten konnte. Da ich ihn kenne, kann ich sagen, dass nur er so viel Kraft aufbringen konnte – mein Onkel Rafail. Das Krankenhaus konnte er nicht mehr verlassen. Dieser Mensch stand mir sehr nahe. Ich besuche oft sein Grab.

Als wir in Kasachstan die Buchpräsentationen durchführten, bereits in der dritten Stadt, in Astana, wurde ich nach zwei Auftritten in die Klinik eingeliefert. Aus dem Notfallwagen kam ich direkt auf den OP-Tisch. Der Blutdruck fiel auf 20, aber ich überlebte. Später teilte man mir mit, dass dies der zweite Infarkt war, den ersten hatte ich wohl gar nicht bemerkt. Nach meiner Rückkehr nach Berlin wurde ich am offenen Herzen operiert.

Damit man nicht vergisst

Weshalb ich dieses Buch geschrieben habe und für wen? Mit der Muttermilch und den Erzählungen meines Vaters habe ich all das Beste in mir aufgenommen, was die Kultur meines geliebten Volkes hergibt. Ich bin ein Sohn der Steppe, in meinen Adern fließt kasachisches Blut.

Durch die Beschäftigung mit der Kultur und Geschichte Deutschlands lernte ichdas Volk, in dessen Mitte ich nun schon seit einem Vierteljahrhundert lebe, zu lieben und zu ehren. Meine beiden Töchter Asem und Kristina wurden in Kasachstan geboren, meine beiden Söhne Timur und Artur in Deutschland. Meine Enkelin Karolina kam in Berlin zur Welt, mein Enkel Gabriel-Vallo in Helsinki. Mein jüngster Schwiegersohn Alexander stammt aus Kus­tanai, und der älteste Schwiegersohn Johannes ist ein echter Finne. Wer meine Schwiegertöchter sein werden, werden wir beizeiten noch erfahren.

Für sie alle ist dieses Buch! Ich will, dass sie ihre Heimat nicht vergessen, ihre Angehörigen und die Urahnen, dass sie jene ehren und bewahren, die noch leben, dass sie die Lebensgeschichte der Menschen kennen, die nicht mehr unter uns sind.

Für die Kinder von Rafail Schnell, Eugen und Helena, für seine Enkel und Urenkel, ist dieses Buch, damit sie vom schweren Los ihres Vaters wissen und stolz auf ihn sind. Das Buch habe ich geschrieben, damit die Menschen verstehen: Wenn man sein eigenes Volk liebt, wertschätzt und ehrt, dann ist es unmöglich, ein anderes Volk zu erniedrigen und zu hassen.

Das Buch von Bulat Mekebaev, „Der lange Weg bis zum Wiedersehen“ (auf Russisch), mit einem Autogramm des Autors kann bestellt werden unter: Tel.: 0179-4855967, E-Mail: bulat64@list.ru

Nadeshda Runde

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