Als ich nach Detmold fuhr, um dort ein Praktikum im Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte zu machen, wusste ich natürlich, dass ich da viel Interessantes finden werde. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass es hier so viele echt einzigartige Materialien gibt. Und das gilt nicht nur für die Dauer- und Sonderausstellungen, die voller Gegenstände aus dem 18. und dem 19. Jahrhunderten sind, sondern auch für das Archiv und die Bibliothek. Nirgendwo anders könnte ich solche Materialien zur Einwanderung ins Wolgagebiet, deutsche Kolonien, und auch zu russlanddeutschen Dialekten und Volksmusik finden. Aber lasst uns nicht vorauseilen.

Man weiß ja, dass die Mehrheit der Russlanddeutschen im 18. Jahrhundert nach Russland kam, als die Zarin Katharina II., auch Katharina die Große genannt, diesbezüglich ein Manifest erließ. Die Einladung ins Russische Reich kam für viele Menschen zu einem günstigen Zeitpunkt.

Die Versprechen der Zarin haben viele Leute zur Auswanderung nach Russland bewegt. Die neuen Kolonisten waren von der Wehrpflicht befreit, sie durften ihren Glauben ausüben und sich selbst verwalten. Darüber hinaus bekam jede Familie fast 33 Hektar Land, zehn Jahre Steuerfreiheit und zinslose Kredite.

Viele deutsche Dialekte an der Wolga

Als Folge davon, wanderten etwa ein Hunderttausend Menschen in mehreren Wellen in das Zarenreich. Und die Menschen brachten ihre Dialekte und Mundarten nach Russland mit. Und so existierten in Russland alle Großtypen der deutschen Dialekte, nämlich Niederdeutsch (die Mennonitenmundarten wie z. B. Niederpreußisch), Mitteldeutsch (Hessisch und Pfälzisch) und Oberdeutsch (Südfränkisch, Schwäbisch und Nordbairisch).

Als sich die Kolonisten an der Wolga ansiedelten, konnten so unterschiedliche Dialekte wie Bairisch, Niederdeutsch und Pfälzisch als Nachbardialekte in derselben Siedlung gesprochen werden, was in der einheimischen deutschen Realität unvorstellbar wäre.

Das hatte einige Mischungsphänomene zufolge, die den Dialekten einen exotischen Klang verliehen. Eine andere Folge war jene, dass nicht alle Dialekte, die in der ersten Einwanderungswelle gesprochen wurden, überlebt haben. Einen Vorteil hatte diejenige Mundart, welche die meisten Gemeinsamkeiten mit den anderen Mundarten innerhalb der Siedlung hatte.

So war zum Bespiel der moselfränkische Dialekt von Lothringen vertreten, verlor sich aber danach, und die Sprecher nahmen die pfälzische Mundart an. Das geschah auch mit vielen anderen Mundarten. Nach 150 Jahren solcher Angleichungen existierten im Wesentlichen nur noch hessische und pfälzische Mundarten.

A als O, -au und -ei werden zu -aa

Als Nachkomme einer Familie hessischer Herkunft wollte ich natürlich im Archiv zuerst die hessische Mundart recherchieren und herausfinden, welche Elemente der wolgadeutschen Sprache aus der hessischen Mundart stammen. Dazu habe ich viele Materialien gefunden.
Der hessische Dialekt hat eben gewisse Besonderheiten und viele Eigenheiten der hessischen Mundarten finden sich auch im wolgadeutschen Dialekt wieder.

Im Hessischen wird der Vokal a häufig als o ausgesprochen: Beinome (Beinamen), wohr (wahr), dos (das), wos (was), Schtoll (Stall), klooche (klagen), hort (hart), losse (lassen), Schtod (Stadt). Wie Sie wahrscheinlich schon gemerkt haben, schwindet -n in der Endung -en bei Verben.

Dies gilt sowohl im Infinitiv: planse (pflanzen), behaale (behalten), hoire (hüten), leeje (legen), niiriche (nötigen), muse (müssen), als auch im Partizip Perfekt: gelaawe (gelaufen), geroowe (gerufen), gewoose (gewachsen) und im Imperfekt Plural: koume (kamen), blope (blieben).

Das -n schwindet auch im Plural der Substantive: Aache (Augen), Ruuse (Rosen), Blome (Blumen). In vielen Substantiven, die im Hochdeutsch ein -e am Ende haben, schwindet dieses -e in beiden Dialekten: Breed (Breite), Goil (Gäule), Gest (Gäste), Loit (Leute), Ploik (Pflüge), Schtoil (Stühle), Schowl (Schule), Trop (Truppe).

Die Diphthonge -au und -ei werden häufig als langes -aa ausgesprochen: Fraa (Frau), aach (auch), laawe (laufen), kaawe (kaufen), haase (heißen), kaa (keiner), haam (heim), Klaare (Kleider). Und nun kommen wir zum wohl auffälligen Merkmal der beiden Sprachen: dem sogenannten „Rhotazismus“, wenn die Konsonanten t und d in der Position zwischen Vokalen – auch über Wortgrenzen hinweg – und vor dem Suffix -chen zu r werden: Bläire (Blätter), Fouer (Futter), Moure (Mode), Broure (Bruder), schtreire (streiten), obgschnirre (abgeschnitten), geniiricht (genötigt), Määrchen (Mädchen).

Ein einzigartiger Klang

Ein weiteres Merkmal des Hessischen in Deutschland, wie auch des Dialekts in Russland, ist die Aussprache des Konsonanten b, der in einigen Positionen als w ausgesprochen wird: gsoiwed (gesäubert), ewr (aber), halwe (halbe), Ruwwl (Rubel), iwr (über), Ouwed (Abend), Schtuwe (Stube). Der Konsonant g wird in diesen Positionen als j oder ch ausgesprochen: morje (morgen), orich (arg), richtichi (richtige), bloumuchi (blumige).

Sehr typisch ist für die hessische Mundart die Aussprache des langen Vokals o als u: gruus (groß), Vuuchel (Vogel), Truust (Trost), Suu (Sohn), huuche (hohe), bluus (bloß), Schtruu (Stroh), fruu (froh). Der lange Vokal e wird in einigen Wörtern als i ausgeprochen: mii (mehr). Andererseits wird i im Stamm oft als e ausgesprochen: brenge (bringen), Wender (Winter), fenster (finster).

Auch in der Syntax zeigt die hessische Mundart ein auffälliges Merkmal, und zwar in Bezug auf die Wortfolge, wenn das Verb und das dazugehörige trennbare Präfix eine andere Reihenfolge haben als im Hochdeutschen. Diese Besonderheit ist sehr eigenartig und trägt wesentlich zu dem einzigartigen Klang dieser Mundart bei.

Die trennbaren Präfixe aus-, ein-, durch-, mit-, ab-, hin- werden vom Verb durch andere Satzglieder getrennt: uf harre gschtellt (auf hatten gestellt), hii woe gfoen (hin war gefahren), aus war getriggelt (aus war getrocknet), en kende leeje (ein könnten legen).

Aber die russlandhessische Mundart lässt sich nicht nur durch die Aussprache und Syntax erkennen, sondern auch durch ihren Wortschatz: Wase (Tante), Verrer (Onkel), Gommen (Gurken), Watz (Eber), Gaaste (Ziege), Freckelchen (Ferkelchen), Schaala (Fensterladen), Boen (Brunnen), Schnerch (Schwiegertochter), Gschpylwääse (Spielzeug), Dibbe (Topf).

Auch einige Wörter aus dem Russisch wurden ins Wolgadeutsch übernommen: Lafke (ein kleines Geschäft), Bilet (Ticket), Aftobus (Bus), Oblast (Gebiet), Kowör (Teppich), Diwan (Sofa), Pyschkelchen (ein russisches Brötchen), Cholodez (Sülze).

Russlanddeutsche Gedichte

Die Mundart kann man in diesen russlanddeutschen Gedichten erkennen, die ich in der Bibliothek des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold gefunden habe:

Awer uns geht gut
Mir lewe ohne Sorche
Wann die Leit zu Mittach esse
Esse mir zu Morche

(Aber uns geht es gut
Wir leben ohne Sorgen:
Wenn die Leute zu Mittag essen,
Essen wir zu Morgen)

Kih kumme, Ochse brumme
Hei in dr Kribbe
Milch in der Dibbe
Schbeck un Aier in dr Pann
Gebt n guder Ackerschmann

(Kühe kommen, Ochsen brummen
Heu in der Krippe,
Milch im Topf,
Speck und Eier in der Pfanne
Gibt einen guten Ackersmann)

Im Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte gibt es auch viele Informationen zu anderen Mundarten der Deutschen aus Russland. Besonders viel gibt es zum Plattdeutschen, man kann hier sogar aktuelle Ausgaben von der Zeitschrift „Plautdietsch Frind“ finden, und der Verein „Plautdietsch-Freunde“ ist hier auch aktiv und organisiert sogar regelmäßig Veranstaltungen.

Deshalb, wenn „Lepel“ und „Itschke“ keine leeren Floskeln für Sie sind, dann sollten Sie auch unbedingt ins Museum nach Detmold kommen.

Mstislaw Isheim

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