Zum Tag der Russlanddeutschen

Der Deportationserlass vom 28. August 1941 und die darauffolgende totale Zwangsaussiedlung der deutschen Sowjetbürger aus dem europäischen Teil der UdSSR nach Sibirien und Kasachstan werden oft als Reaktion auf den reichsdeutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni gedeutet, zuweilen mit dem Hinweis versehen: Hätte es keinen deutsch-sowjetischen Krieg gegeben, wäre die Verbannung der deutschen Minderheit bestimmt nicht erfolgt. Diese Behauptung hält einer näheren Prüfung der historischen Tatsachen jedoch nicht stand. Die Deportation stellte folgerichtig die Kulmination einer bereits zuvor praktizierten Politik dar.

Werfen wir einen Rückblick auf die sowjetische Nationalitätenpolitik der Zwischenkriegszeit: Schon Anfang der 1930er-Jahre, noch zu Friedenszeiten, vollzog sich eine deutliche Wende hin zu konservativen, vorrevolutionären Werten und Mustern. Neben der umfassenden staatlichen Lenkung aller wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Bereiche machte sich eine zunehmende Abkapselung von dem Ausland bemerkbar, was unter anderem zu dem Konzept der „feindlichen Nationalitäten“ führte. Ausländische Staaten könnten durch Diaspora-Minderheiten schädliche Einflüsse ins Land bringen …

Sowohl einem offenen als auch unterschwelligen Vorwurf potentieller Schädlings- und Spionagetätigkeit waren in erster Linie solche nationalen Minderheiten wie die Polen, Deutschen, Finnen, Esten, Letten und Koreaner ausgesetzt; dies diente zur Rechtfertigung von Massenverhaftungen und „prophylaktischen“ Deportationen. Als eine der ersten sowjetischen Minderheiten erlebten die Deutschen Deportationen aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit. Im April 1936 fasste der Rat der Volkskommissare der UdSSR einen geheimen Beschluss „Über die Aussiedlung von 15.000 polnischen und deutschen Haushalten aus der Ukrainischen SSR und ihre wirtschaftliche Ansiedlung im Gebiet Karaganda der Kasachischen SSR“. Daraufhin wurden offiziellen Angaben zufolge 69.300 Personen aus den Grenzgebieten der Ukraine nach Kasachstan zwangsausgesiedelt; die Polen machten dabei mit etwa 75 % das Gros der Betroffenen aus.

Der polnische Nationalkreis „Marchlewski“ und der deutsche Kreis „Pulin“ im Gebiet Schitomir wurden zusammen mit allen nationalen Schulen und kulturellen Einrichtungen bereits im Juli 1935 abgeschafft. Schon früher, am 5. November 1934, nahm das Zentralkomitee der bolschewistischen Partei den Beschluss „Über den Kampf gegen die konterrevolutionären faschistischen Elemente in den deutschen Kolonien“ an, welcher eine systematische antideutsche Politik einleitete. So reagierte die Staats- und Parteispitze auf sämtliche Hilferufe hungernder Deutscher und deren Kontakte mit Ausländern; so etwas wurde als Treuebruch bzw. als Verrat an der „sozialistischen Heimat“ gewertet.

Folgende Zeilen aus dem erwähnten Beschluss nehmen deutlich die pauschale Schuldzuweisung in Bezug auf alle Sowjetdeutschen vorweg, wie sie sieben Jahre später erfolgte:

„In das ZK der WKP (b) trafen Mitteilungen ein, dass sich in den von Deutschen besiedelten Rayons in letzter Zeit antisowjetische Elemente bemerkbar machen und dort offen konterrevolutionäre Tätigkeiten betrieben werden. Unterdessen reagieren die örtlichen Parteiorganisationen und Organe des Volkskommissars für Innere Angelegenheiten (NKWD) äußerst unentschlossen auf diese Fakten, geradezu fahrlässig, und glauben völlig zu Unrecht, unsere internationale Politik verlange diese Nachsicht gegenüber den Deutschen und anderen Nationalitäten, die in der UdSSR leben und eine elementare Loyalität zur Sowjetmacht verletzen.“

In den Jahren 1935 bis 1938 erlebte die finnische Minderheit im Raum Leningrad ebenfalls Verfolgungen aufgrund nationaler Merkmale: Das NKWD siedelte etwa 30.000 Finnen aus der Stadt und Umgebung in die benachbarten Gebiete sowie nach Kasachstan (10.500 Personen) und Tadschikistan um; der nationale Rayon (Kreis) Kuivainen wurde aufgelöst. 1937 ereilte dasselbe Schicksal auch 172.000 Sowjet-Koreaner (siehe den Politbüro-Beschluss vom 21. August 1937), die aus dem Fernen Osten ausnahmslos nach Zentralasien deportiert wurden, davon 95.500 nach Kasachstan und der Rest nach Usbekistan. In diesen Jahren folgten ihnen einige Tausend Iraner und Kurden aus Armenien und Aserbaidschan.

Während der Jahre des Großen Terrors von 1937 bis 1938 bildeten nationale Minderheiten westlicher Herkunft eine bevorzugte Zielscheibe der politischen Strafverfolgung: So wurden 105.485 Polen strafrechtlich belangt (7,4 Prozent der Gesamtzahl der Verurteilten in der UdSSR in diesen Jahren) und größtenteils erschossen, obwohl sie nur 0,4 Prozent der Bevölkerung der UdSSR ausmachten. Dasselbe galt für die 75.331 abgeurteilten Deutschen (5,3 Prozent) mit einem Bevölkerungsanteil von nur 0,8 Prozent, für 21.392 Letten (1,4 bzw. 0,1 Prozent) usw.

Solche „Sonderbehandlungen“ betrafen auch zahlreiche Personen, die sich weitgehend assimiliert hatten, mit der russischen Sprache und Kultur aufwuchsen und deren Herkunft nur durch einen fremd klingenden Nachnamen verraten wurde. Für solche Fälle hatte das NKWD rechtzeitig gesorgt. Eine Direktive in Bezug auf die Ausstellung von inländischen Ausweisen vom 2. April 1938 regelte dies folgendermaßen:

„Wenn der Antragsteller Deutscher oder Pole ist, so darf er auf keinen Fall als Russe oder Belorusse registriert werden, egal wo er geboren ist, wie lange er schon in der UdSSR lebt oder ob er seine Dokumente geändert hat. In jenen Fällen, in denen die angegebene Nationalität nicht mit der Muttersprache oder dem Namen übereinstimmt – wenn zum Beispiel der Familienname Popandopulo oder Müller lautet und der Betroffene sich selbst als Russe oder Belorusse bezeichnet –, so wird das Feld bezüglich der Nationalität nicht ausgefüllt, bis der Antragsteller schriftliche Beweise vorlegen kann.“

Dies erleichterte später die Arbeit der Sicherheitsorgane, Personen entsprechender Nationalitäten zu erfassen, auszusondern und abzuschieben.

Zusammenfassend möchte ich noch einmal hervorheben: Solche Sätze wie „Die Deportation der sowjetischen Deutschen muss in einem historischen Kontext als Folge des Angriffs und der Besetzung der Gebiete in der UdSSR durch Hitler-Deutschland betrachtet werden“ sind irreführend und historisch nicht haltbar. Hier werden Ursachen, Folgen und Anlässe durcheinandergebracht – als wären die umfassenden Deportationen der koreanischen Minderheit im Jahr 1937 oder die Deportationen von Kalmücken, Tschetschenen und Krimtataren zwischen 1943 und 1944 ebenfalls als „Folge“ entsprechender „Angriffe“ und „Besetzungen“ zu rechtfertigen.

Die Ergebnisse internationaler wissenschaftlicher Forschung, die sich vor allem auf Vorarbeiten russischer Historiker und Archivare stützt, sind übereinstimmend: Für das Stalinregime war der Angriff von Hitler-Deutschland ein willkommener Vorwand, sich einiger unliebsamer Völkerschaften zu entledigen. Ebenso spricht das Gesetz der Russländischen Föderation aus dem Jahr 1991 „Über die Rehabilitierung der repressierten Völker“ eindeutig von einer „Politik der Willkür und Gesetzlosigkeit“ seitens der damaligen sowjetischen Staatsführung. Diese Politik führte zu Zwangsaussiedlungen zahlreicher Volksgruppen in den 1930er- und 1940er-Jahren.

Dr. Viktor Krieger, BKDR

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